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Aus bekannten Gründen

Vor einer Zeit habe ich mich in der Sammlung Winterthur umgesehen nach Dokumenten, die mir Aufschluss über die Geschichte der Literarischen gegeben hätten, und zwar über die Spanische Grippe. Die Corona-Pandemie ist die zweite Pandemie im Leben dieses Vereins, ich wollte wissen, welchen Einfluss die Spanische Grippe auf den Lesungsbetrieb hatte. Zwar ist die Geschichte des Vereins und seiner Tätigkeiten gut dokumentiert in der Anthologie Zeit∙Spur von 1992 (hrsg. von Gérard Piniel und Beat Schenk, Winterthur), die Teil einer Jubiläumsgabe war. Die Anthologie zeigt aber vor allem das literarische Schaffen dieses Wirkens an. Die geschichtlichen Aspekte sind im Neujahrsblatt der Stadtbibliothek Winterthur 2017 herausgearbeitet von Ute Kröger.

Beide Bände enthalten keine Informationen zur Spanischen Grippe, man kann in der 100. Jahr-Geschichte einzig ex negativo schliessen, dass es sie gegeben hat, denn zwischen Mai und Herbst sind keine Veranstaltungen verzeichnet. In den Vorstandsprotokollen sind die ausfallenden Lesungen mit keinem Wort verzeichnet, warum sollten sie auch? – Heute wäre auch kaum etwas verzeichnet ausser in den Protokollen zur GV, weil die GV auf schriftlichem Weg stattgefunden hat. In den Zeitungen wären wahrscheinlich Einträge zu finden, nur nicht für den Verein spezifisch. Stattdessen arbeitete der Vorstand an einer Publikation, und zwar mit vereinten Kräften – Sitzungen bis spätabends oder gar nachts.

Was mich ob diesem Schaffenswillen nachdenklich machte: So einschneidende Ereignisse sind nicht dokumentiert, weil alle sie miterleben. Positiver gewendet: Zeitgenossenschaft ist derart etabliert, dass die Dokumentation nicht nötig erscheint. Was ist denn sonst noch so alles nicht überliefert – weil Zeitgenossen miterleben?

Büchermenschen

Heute mit Hilde Domin im Kopf in die Stadtbibliothek gegangen, das war noch da aus einem Gespräch mit einer Schülerin. Ein paar Bücher holen, wie man das immer tut, aber mit offeneren Augen: Darum entdecke ich, dass dort in der Handschriftenabteilung ein Ausschnitt aus dem Gästebuch der Literarischen ausgestellt ist. Sie war im Jahr 1975 zu einer Lesung in der Literarischen und bedankt sich im Gästebuch für den schönen Abend. Das sind so schöne Erlebnisse im Leben eines Büchermenschen.

Gelesen: Der Tod des Iwan Iljitsch


«Und nun ließ er in seiner Phantasie die besten Minuten dieses angenehmen Lebens an sich vorüberziehen. Allein, wie sonderbar, all diese besten Minuten angenehmen Lebens schienen jetzt gar nicht mehr das zu sein, was sie ihm vordem gewesen. Alle, alle mit Ausnahme erster Kindheitserinnerungen. Dort, in der fernen Kindheit, lag etwas wahrhaft Angenehmes, mit dem man auch heute noch hätte leben können, wenn es nur wiederkehren wollte. Freilich war der Mensch, dem dieses Angenehme widerfahren, nicht mehr da: es war gleichsam nur die Erinnerung an einen anderen.» (80)

Tolstoj, Leo. Der Tod des Iwan Iljitsch. Erzählung. Stuttgart: Reclam, 1986.

Buchstabenmenschen


Manchmal trifft man auf Leute, die sich mit Buchstaben auskennen. An den unterschiedlichsten Orten und zu verschiedenen Zeiten haben diese mit dem zu tun, was wie ein Fluch scheint. Die Beherrschung der Buchstaben setzt einen grossen Aufwand voraus. Sobald man sie aber beherrscht, beherrschen sie einen selbst: Liest man sie, kann man sie nicht mehr nicht lesen.

Obwohl alle gleich in ihrem Fluch, oder sei es auch ein Segen, gefangen sind, die sich auf das Abenteuer eingelassen haben, gehen sie unterschiedlich mit dem Gegenstand des Buchstabens um.

Eine liest Zeitungen von vorne nach hinten und von hinten nach vorne. Sie meditiert das Weltgeschehen des vergangenen Tages, setzt ihr Puzzle zusammen, ist informiert. Man kann sie fragen, was passiert ist, wenn man die Zeit nicht gefunden hat, die letzten Zeitungen zu lesen, wenn man der Zeit der Informationen hinterherhinkt.

Ein Anderer schreibt Zeitungen, liest sie aber nicht. Die Buchstaben würden ihn wahnsinnig machen, meint er. Er fragt sich, was es ihm nütze, wenn er wisse, dass der Reissack, der berühmte, umgefallen sei, gleichzeitig aber nicht wisse, wie es seiner – für sein Leben wichtigeren – Nachbarin gehe.

Dies muss denn wohl auch der Grund dafür sein, dass er seine Ferien lesend im Lichthof der Universität seiner Heimatstadt verbringt, mit den Menschen von da und überall spricht.

Ein wiederum Anderer macht sich einen Buchsommer, der jeden Sommer zu einem speziellen Sommer macht: Ein spezieller literarischer Text, links nach rechts oder umgekehrt gelesen, die Briefe und Essays dazu verleihen der warmen Zeit einen unverwechselbaren Charakter.

Listen


Gewisse Listen haben etwas Schönes an sich: Besonders die Lektürelisten, an denen man sich besonders erfreut, wenn sie abgeschlossen sind. Mit Listen zu lesen gibt einem den Eindruck, lesen sei etwas Zielstrebiges, man kann einen Haken unter ein Buch setzen, wenn man ein Buch fertig hat.

So darf man sich als Student der Literaturwissenschaften während des Studiums einige Listen zusammenstellen und so lesend wichtige Bücher «des Kanons» lesen. Man bekommt das Gefühl, einen Überblick über die literarischen Texte zu bekommen, denn die eigene Liste ist ja abgeschlossen. Und natürlich gibt es einem auch das Gefühl einer gewissen Zielstrebigkeit.

Dass solche Gefühle äusserst trügerisch sind, braucht man gar nicht zu erwähnen: Eine Liste mit dreissig Werken steht bloss für einen ganz kleinen Teil dessen, was geschrieben wurde oder dessen, was gelesen werden kann. Dass einem der Literaturpapst Ranicki dabei behilflich sein will, was man lesen sollte, ist da eine nette Geste, aber doch nicht viel mehr, wie Kanondebatten gezeigt haben und er selbst auch meint.

Gerade im Zusammenhang mit dem Papst muss einem da doch auch die Bibel in den Sinn kommen, die ja auch kanonisiert wurde. Dass einem viele interessante Werke entgehen, wenn man bloss den Kanon anschaut, mag man hier bestimmt annehmen. Indem gewisse Texte als «kanonisch» erklärt werden und ihnen eine gewisse Wichtigkeit zugeschrieben wird, werden gleichzeitig andere degradiert, die nicht in den Kanon gehören, die aber gleichfalls interessant sein können.

Wer sich also alleine an einem literarischen Kanon orientiert, wird viele interessante Lektüren verpassen und so einige Lektürestunden eines guten Buches an sich vorbeiziehen lassen müssen. Dennoch: Zur Orientierung im Bücherwald, ist es unerlässlich, eine Liste zu haben, von der man weiss, dass sie gut ausgewählt ist, von der man weiss, was die verschiedenen Punkte darauf repräsentieren.

So bleibt man im altbekannten Dilemma: Sucht man sich eine Liste zusammen, die einem als Kanon dient, hat man immer im Bewusstsein, dass die Liste nicht abschliessend sein kann. So liest man sich von Liste zu Liste, bis man dann selbst eine eigene Liste zusammenstellt.

Einige Listen:

  • Griese, Sabine/Kerscher, Hubert/Meier, Albert/Stockinger, Claudia: Die Leseliste. Kommentierte Empfehlungen. Stuttgart: Reclam, 1994.
  • Der Kanon (von Marcel Reich-Ranicki)