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Gelesen: Corpus Delicti. Ein Prozess

Stellen Sie sich vor, Ihnen wird der Prozess gemacht, weil Sie versäumt haben, die 300 Kilometer pro Woche auf Ihrem Fahrrad abzustrampeln, die Sie sich fürs Neue Jahr vorgenommen haben. Dann befinden Sie sich in einer ähnlichen Situation wie Mia, die Protagonistin von Juli Zehs Erzählung Corpus Delicti. Allerdings hat sich Mia die Fahrradkilometer nicht vorgenommen; sie sind ihr vom Staat, vom System auferlegt, damit sie die Bewegung bekommt, die einem in einem totalen Gesundheitsstaat vorgeschrieben ist.

Zeh entwirft in ihrer Erzählung Corpus Delicti die Dystopie einer Gesellschaft, auf Vernunft und der Methode basiert. Die Methode ist ideologischer Ersatz und Lösung für alle Probleme, die in einer Gesellschaft im Alltag anfallen. Und – das wird von einer Methode schliesslich erwartet – sie hat totale Deutungshoheit über schwierige Fälle.

Interessant und lesenswert ist das Buch nicht wegen den Ausführungen auf die Methode, sondern wegen den personellen Verstrickungen, die sich während des Prozesses zeigen. Ein Anwalt, der sich verselbständigt und seine Mandantin für höhere Zwecke benutzt, virtuelle Personen wie die ideale Geliebte oder öffentlichkeitsgeile Fernsehinterviewpartner, denen zum Schluss hin alles aus dem Ruder läuft in einer Gesellschaft, die darauf getrimmt ist, nichts aus dem Ruder laufen zu lassen.

Dies alles wird immer wieder in den Modus des Spiels verlegt:

Mia schweigt. Die Richterin hat sich geirrt, als sie glaubte, dass die Beschuldigte sich nicht an sie erinnern könne. Mias Gedächtnis zeigt Sophie als eine von vielen schwarz gekleideten Puppen in den Kulissen einer Geisterbahn, ganz hinten im Windschagtten des Schwurgerichts, halb sitzend, halb verborgen vom vorsitzenden Richter, den Beisitzern und Protokollanten. (53)

Das Setting dieser Puppengeschichte wird auf eindrückliche Weise und mit viel Autoreflexion durchbrochen durch Erinnerungspassagen, die von der Verurteilung von Mias Bruder Moritz erzählen. Oder durch Reflexionen über das Leben, die im Laufe des Buches immer ausgereifter werden und die Totalität der Dystopie durchbrechen:

Dem wahren Menschen genügt das Dasein nicht, wenn es ein bloßes Hier-Sein meint. Der Mensch muss sein Dasein erfahren. Im Schmerz. Im Rausch. Im Scheitern. Im Höhenflug. Im Gefühl der vollständigen Machtfülle über die eigene Existenz. (92)

Zeh, Juli. Corpus Delicti. Ein Prozess. München: btb, 2010. 

#28: Abblasen einer wichtigen Reise (122)

Bei allzu wüstem Wetter sollte man gewisse Dinge einfach abblasen. Während der Schulzeit war jeweils die Telefonnummer 1600 gefragt, wo Lehrerinnen und Lehrer auf ein Bändchen sprachen, ob ein Sporttag stattfinden werde oder nicht. Unglaublich teuer waren diese Telefonate auf das Bändchen, denn bis man endlich bei der richtigen Schule angelangt war, durfte man sich zuerst anhören, dass in einem Schulhaus eines Bergdörfchens im Wallis ein Sporttag durchgeführt werde, weil das Wetter so schön sei und dieser Sporttag beginne um 13 Uhr wie abgemacht im Turntenü.

Die Zeit dieses Telefondienstes ist wohl so gezählt wie diejenige des Zeitansage-Telefonbeantworters. Mit Internetzeit hat heute wohl jeder genauere Uhren als man sie je gestellt bekam, währenddem die Zeitansagerin noch Sekunden zählte, bis sie den Piepston abschickte. Der Telefondienst wird vielleicht allmählich durch Email-Massensendungen abgelöst oder auch weiterhin beibehalten.

Dass jemand keinen Computer hat, wird da so wenig nützen wie damals im 1997 als die Familie des Klassenkameraden keinen Telefonapparat hatte. Entschuldigt werden sie wohl dadurch, dass beim Haus, in dem sie wohnten, schon die Farbe total abgeblasst war. Wenn man genug genau hinguckte, konnte man sehen, dass sie stellenweise sogar abblätterte.

Bei Sporttagen oder Schulreisen waren die Mitglieder immer auf ein Buschtelefon angewiesen, denn an Gebüsch waren sie wiederum reich. Rund ums Haus wurden Bohnenstangen in den Boden gerammt, damit sich die Familie während des Winters von Bohnen ernähren könne. Nicht nur zu diesem Zweck waren die Bohnen während des Sommers wunderbar. Auch wenn ein Autofahrer, obwohl mitten im Dorf, vergessen hätte, abzublenden, also das Abblendlicht zu verwenden statt der Scheinwerfer, wäre diese Familie nicht geblendet worden.

Ob der Junge mal bei Regen an eine Schulreise gegangen ist, weil er die Nummer 1600 nicht direkt hören konnte? – Ob er einen Schaden erlitten hat, weil er die Zeitansage nicht abhören konnte, und so nicht in den Genuss einer Zeitmaschine kam. Vielleicht blitzt er jetzt bei anderen Dominas, wer will, kann hier auch dominae lesen, ab, weil er sich nicht lange hat überlegen können, was er dem Fräulein auf der anderen Seite sagen würde, wenn sie denn aus dem Telefonhörer herausstiege?

Auf jeden Fall weiss er jetzt, wie man damit umgeht, wenn man hinter den sieben Büschen lebt und im Regen, mutterseelenallein auf die Schulreise gehen will. Und was es braucht, damit man die anderen abblocken kann, wenn sie ihm erzählen, dass trotz des schönen Wetters die Schulreise am 1. April nicht stattfindet, weil das Wetter zu schön sei und man dann das gelbe Regenmäntelchen nicht brauchen könnte. Oder die Pelerine. Und das nach fauligen Eiern riechende Haarshampoo.