Nachdenken über Gerechtigkeit, nicht nur während der Pandemie, aber auch: Da führt kein Weg an John Rawls vorbei. Faszinierend fand ich sein Gedankenexperiments des «Schleiers des Nichtwissens» während des Studiums. Es geht darum, dass wir Überlegungen zu einer gerechten Gesellschaft nur anstellen können, wenn wir davon abstrahieren, in welcher gesellschaftlichen Position wir uns befinden. Also einmal zu überlegen, wie man entscheiden würde, wäre man Risikopatient, Beizer, jung, alt etc.
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Sudelblock
Die ursprüngliche Idee des Sudelblocks war es auch, hier unausgegorene Gedanken und Beobachtungen anzustellen. Dieses Konzept habe ich in den Lektürenotizen in der grossartigen Zeitschrift volltext wiedergefunden: Dort bringen Lesende ihre Eindrücke zu Lektüren, ohne sie literaturhistorisch genau einzuordnen, ohne sie objektiv zu begründen, ohne all dies. So könnte ich diesen textworker-Sudelblock wiederbeleben, mit der früherigen Idee, die nicht vollständig zu sein braucht.
Gelesen: Trotzdem
Gespräch von Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge mit einleuchtenden Gedanken zum Ausnahmezustand von Corona.
Räume
Was Räume alles für einen machen merkt man erst mit dem Fernunterricht und den Distanzen, die man einhalten soll, wenn man die gewohnten räumlichen Umgebungen nicht mehr zur Verfügung hat. Sie nehmen einem Organisation ab, und dies auf hohem Niveau. Ein Raum ermöglicht ein Gespräch unter Anwesenden, ein Gespräch: Ein Treffen zur gleichen Zeit am gleichen Ort.
Und vielleicht doch nicht ganz gleichzeitig: Er ermöglicht, dass mehrere Gespräche nebeneinander stattfinden können, dass man Bezug nehmen kann auf die anderen Anwesenden. Dies funktioniert natürlich alles auch im digitalen Raum, aber unter neuen Bedingungen, die einen merken lassen, wie sehr man an das Raum-Paradigma gebunden ist: Sprech-Räume, Erfahrungs-Räume, Begegnungs-Räume.
Was in den virtuellen Apéros fehlt: Die Küchengespräche, Parallelgespräche am Mittagstisch, dass man zufällig in Kollegen reinläuft, mit denen man schon lange nicht mehr gesprochen hat. Man bekommt dafür Ideen, wie man in diesem digitalen Raum arbeiten kann, überlegt sich dieses und jenes, lernt in Szenarien zu leben, die von den äusseren Umständen täglich über den Haufen geworfen werden können.
Für all das Verlorene sucht man nun Ersatz, man wird nach den Frühlingsferien besser mit den virtuellen Räumen zurechtkommen. Man verliert, immer narzisstischer werdend, die Scham vor der Kamera, zeichnet sich selbst auf, weil man merkt, dass man sich selbst in die Tasche lügt, wenn man meint, Gespräche mit der ganzen Klasse seien etwas anderes als häufig Monologe mit der Kamera.
Und wie um dieses Manko an echten Raum-Erfahrungen auszugleichen, werden die Spaziergänge täglich raumgreifender. Und jeden Tag versucht man sich in eine konzentrierte Stimmung zu versetzen, sich von den äusseren Umständen zu isolieren.
Studium und Punctum
Bei Barthes bin ich immer wieder erstaunt, wie klar er das Phänomen der Fotografie zu fassen vermag mit zwei einfachen, aber althergebrachten Begriffen: Studium und Punctum. Im Moment finde ich vor allem die Konzeption des Studium sehr schön, weil er beschreibt, wie daran eine ganze Rezeptionskultur hängt. Eine Kultur, auf die man sich verlassen kann, in die man sich einüben kann, die – dies ist nicht Barthes Begrifflichkeit – man einüben kann und muss.
Das Punctum dagegen ist die Möglichkeit, von einem Bild angesprochen zu werden. Dies ist der Punkt, an dem ein Bild einen wirklich auch betrifft, und zwar nicht auf die Weise des Studium, sondern auf eine persönliche Weise, es ist eine persönliche Betroffenheit damit gemeint.
Der Begriff der Fotografie ist bei Barthes sehr emphatisch, oder vielleicht doch eher ontologisch, und zwar aus zwei Gründen: Einmal wegen der Beziehung, die zwischen dem Bild und dem Referenten besteht, es scheint da wirklich eine Entsprechung zu geben. Ich hatte in Erinnerung, dass diese emphatische Beziehung vor allem deshalb zustande kommt, weil er ausbuchstabiere, wie das Licht im Bild gespeichert ist, besonders auf dem Fotonegativ muss es ja eingebrannt sein. Der andere Grund ist die Abgrenzung von der Malerei, vielleicht ist es kein ganzer Grund, sondern eine Ergänzung zum vorhergenannten: Die Malerei hat nicht diesen strengen Bezug zum Referenten.
Dabei ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese auch von Barthes Herleitung kommt: Mit der Malerei teilt die Fotografie nämlich offensichtlich die Herkunft aus der camera obscura. Diese verleiht dem Bild eine Art Mythos, eine Abbildqualität, die ich so fast nur aus mittelalterlichen Bildtheorien kenne, die aristotelisch beeinflusst sind, und zwar auf eine ganz andere Weise.
Die Fotografie hat deshalb eine viel stärkere Dinglichkeit, als man einem Gemälde zuschreiben könnte.
Die Bildbeschreibungen finde ich dann eher schwieriger nachzuvollziehen, und dies hängt möglicherweise mit dem punctum zusammen, das er bei diesen Beschreibungen in den Vordergrund stellt. Es sind dort sehr perswönliche Beschreibungen, mit denen Barthes beschreibt, was er sieht, was ihm zu sehen möglich wird durch die Fassung seiner Fotografietheorie.
Der zweite Teil ist gänzlich dem Punctum gewidmet, und zwar wegen der Betrachtung des Bildes seiner Mutter. Hier referiert er auf Proust und seine Darstellung der Mutter, aber das scheint mir ein wichtiger Bezugspunkt zu sein für den ganzen zweiten Teil.
«Jede Photographie hat mich als Bezugspunkt, und eben dadurch bringt sie mich zum Staunen, daß sie die fundamentalen Fragen an mich richtet: warum lebe ich hier und jetzt? Zwar setzt die Photographie, mehr als jede andere Kunst, eine unmittelbare Präsenz in die Welt – eine Ko-Präsenz; doch ist diese Präsenz nicht nur politischer Natur, […] sondern auch metaphysischer Natur.» (Barthes, S. 95)