Schlagwort-Archive: Gespräch

Räume

Was Räume alles für einen machen merkt man erst mit dem Fernunterricht und den Distanzen, die man einhalten soll, wenn man die gewohnten räumlichen Umgebungen nicht mehr zur Verfügung hat. Sie nehmen einem Organisation ab, und dies auf hohem Niveau. Ein Raum ermöglicht ein Gespräch unter Anwesenden, ein Gespräch: Ein Treffen zur gleichen Zeit am gleichen Ort.

Und vielleicht doch nicht ganz gleichzeitig: Er ermöglicht, dass mehrere Gespräche nebeneinander stattfinden können, dass man Bezug nehmen kann auf die anderen Anwesenden. Dies funktioniert natürlich alles auch im digitalen Raum, aber unter neuen Bedingungen, die einen merken lassen, wie sehr man an das Raum-Paradigma gebunden ist: Sprech-Räume, Erfahrungs-Räume, Begegnungs-Räume.

Was in den virtuellen Apéros fehlt: Die Küchengespräche, Parallelgespräche am Mittagstisch, dass man zufällig in Kollegen reinläuft, mit denen man schon lange nicht mehr gesprochen hat. Man bekommt dafür Ideen, wie man in diesem digitalen Raum arbeiten kann, überlegt sich dieses und jenes, lernt in Szenarien zu leben, die von den äusseren Umständen täglich über den Haufen geworfen werden können.

Für all das Verlorene sucht man nun Ersatz, man wird nach den Frühlingsferien besser mit den virtuellen Räumen zurechtkommen. Man verliert, immer narzisstischer werdend, die Scham vor der Kamera, zeichnet sich selbst auf, weil man merkt, dass man sich selbst in die Tasche lügt, wenn man meint, Gespräche mit der ganzen Klasse seien etwas anderes als häufig Monologe mit der Kamera.

Und wie um dieses Manko an echten Raum-Erfahrungen auszugleichen, werden die Spaziergänge täglich raumgreifender. Und jeden Tag versucht man sich in eine konzentrierte Stimmung zu versetzen, sich von den äusseren Umständen zu isolieren.

Linkeria #29: Das Leben ist ein Spiel (Woche 12, 2010)

  • Kindergarten Is the Model for Lifelong Learning: Mitchel Resnick über den Kindergarten als Modell fürs Lernen. Warum Schulen kindergartiger werden müssen, damit sie aus Schülern Lerner machen: «Underlying traditional kindergarten activities is a spiraling learning process in which children imagine what they want to do, create a project based on their ideas (using blocks, finger paint, or other materials), play with their creations, share their ideas and creations with others, and reflect on their experiences — all of which leads them to imagine new ideas and new projects.»
  • The secret to great work is great play: Warum wir bei der Arbeit das Spiel nicht vergessen dürfen. Garr Reynolds, der Präsentationsspezialist, erklärt den Zusammenhang zwischen Kreativität und Spiel.
  • Rauchzeichen aus Solothurn: Peter Bichsel im Gespräch mit Julian Schütt. Geburtstagsrückblick auf ein Leben.

Jeden Samstag 3 Links und Kürzestzusammenfassungen zu interessanten, visionären, relevanten und lesenswerten Texten aus dem Web. Anregungen werden gerne per Mail entgegengenommen: linkeria [affenschwanz] textworker [punkt] ch

#29: Sitzen neben Unbekannten (124)


Plötzlich sitzt man neben jemandem, der nicht weiss, dass man sich in der Duden-Lektüre beim Eintrag zu Abbrand befindet, und fängt aus unerklärlichen Gründen an, miteinander zu kommunizieren. Unfreiwillig der eine, mit allem Enthusiasmus der andere.

Er habe eben den Bruder des Kurhausdirektors von D. gesehen, und er habe es nicht einmal bemerkt, bis jemand ihn mit dem Namen angesprochen habe. Es wäre doch so schön, sich einmal in diesem Kurhaus abbrausen zu lassen. Der Service sei erstklassig, habe er gehört.

Eigentlich wäre einem zumute, dieses Gespräch abzubrechen, weiss aber nicht wie. Allzu unhöflich möchte man ja nicht wirken, vielleicht wird man ja selbst einmal Bruder des Direktors eines Kurhauses in D. Da wäre es ja schön, wenn sich Leute erfreuen würden und in ein fast kindliches Lachen ausbrechen, dass sie die Ehre hatten, diesen Bruder zu sehen.

Der Abbruch des Blickkontaktes vermag nicht, den Redefluss des Gegenübers abzubremsen. Auch die gänzliche Abwendung führt nicht dazu, die Tirade übers Internet, bei der wir nämlich zu diesem Zeitpunkt angelangt sind, in eine Abbremsung zu überführen.

Also doch nochmals hinwenden zu diesem beneidenswert hartnäckigen Gesprächspartner und ihm klar machen, dass man eigentlich gar nicht wegen ihm, sondern wegen dem Redner da vorne gekommen sei. Wie aber bringt man das zustande, ohne das gegenüber innerlich ganz abbrennen zu lassen? Vielleicht eine Abbreviation verwenden, die er nicht verstehen würde? Zum Beispiel rofl, lol oder etwas in diese Richtung? – Zu gefährlich, die Abbreviatur lol könnte dieser Internet-Oppositionelle als Löli deuten. Dies würde ihn aber vielleicht davon abbringen, ständig Laute von sich zu geben?

Aber der Zug rollt doch noch (79)


Heute am Bahnhof: Es herrscht eine riesige Aufregung. Nein, diesmal nicht, weil der Strom ausgefallen wäre (wie am Tag zuvor), sondern – was einem Pendler oder einer Pendlerin gar nicht als bemerkenswert auffallen
würde – weil sich der Zug noch im Rollen befindet, währenddem sich die Türen öffnen.

Das Gespräch – leider nicht O-Ton, sondern ein aus dem Gedächtnis rekonstruiertes Transkript. Ich weiss, dass ich mich damit in Teufels Küche begebe, denn kein Gedächtnis kann ein Gespräch so gut in Erinnerung behalten, dass es dem tatsächlichen Gespräch entspricht; dies sei mir hier aber verziehen. Abgesehen vom inhaltlichen Dilemma der Gesprächswiedergabe stellt sich auch eine sprachliche Schwierigkeit: Meine Erinnerungen sind in einem Zürcher-Dialekt, obwohl sich die beiden Gesprächspartner in einem Thurgauer-Dialekt unterhielten.

Aber auch das wollen wir hier als Nebensache behandeln. Ausschlaggebend, auch für diesen Blog-Beitrag, ist das Faktum, dass das Gespräch etwas Alltägliches zum Extraordinären macht. Der Alltag wird dadurch spannender, nachdenklicher und bestimmt auch lebenswerter, denn «normal» geglaubte Strukturen werden aufgebrochen und hinterfragt.

Mädchen: Aber dä fahrt ja no.

Mutter: Ja, das schtimmt.

Mädchen: Dä Maa isch abär vorhär uusgschtigä und dä Zug isch no gfahrä.

Mutter: Aber nur ganz langsam, das isch dänn nid so schlimm.

Mädchen: Aber jetzt hät är ganz aghalte. Jetzt chömmer usschtige.

Dies der Kommentar einer jungen Zugfahrerin und ihrer Mutter, als die S8 aus der Richtung Frauenfeld kommend, bevor sie ausstieg und der Beobachter dieser Begebenheit sehnsüchtig darauf wartete, endlich aufs Trittbrett aufzuspringen.

Leider nicht ganz so spektakulär wie die Brüder in Indien auf den Darjeeling Limited aufgesprungen sind, dafür aber für eine umso kürzere Bahnfahrt, die ausser einigen «gut» riechenden Mitfahrenden, und dies sogar im Winter!, nicht wahnsinnig Spektakuläres oder Sinnliches zu Tage gefördert hat.