Gewisse Listen haben etwas Schönes an sich: Besonders die Lektürelisten, an denen man sich besonders erfreut, wenn sie abgeschlossen sind. Mit Listen zu lesen gibt einem den Eindruck, lesen sei etwas Zielstrebiges, man kann einen Haken unter ein Buch setzen, wenn man ein Buch fertig hat.
So darf man sich als Student der Literaturwissenschaften während des Studiums einige Listen zusammenstellen und so lesend wichtige Bücher «des Kanons» lesen. Man bekommt das Gefühl, einen Überblick über die literarischen Texte zu bekommen, denn die eigene Liste ist ja abgeschlossen. Und natürlich gibt es einem auch das Gefühl einer gewissen Zielstrebigkeit.
Dass solche Gefühle äusserst trügerisch sind, braucht man gar nicht zu erwähnen: Eine Liste mit dreissig Werken steht bloss für einen ganz kleinen Teil dessen, was geschrieben wurde oder dessen, was gelesen werden kann. Dass einem der Literaturpapst Ranicki dabei behilflich sein will, was man lesen sollte, ist da eine nette Geste, aber doch nicht viel mehr, wie Kanondebatten gezeigt haben und er selbst auch meint.
Gerade im Zusammenhang mit dem Papst muss einem da doch auch die Bibel in den Sinn kommen, die ja auch kanonisiert wurde. Dass einem viele interessante Werke entgehen, wenn man bloss den Kanon anschaut, mag man hier bestimmt annehmen. Indem gewisse Texte als «kanonisch» erklärt werden und ihnen eine gewisse Wichtigkeit zugeschrieben wird, werden gleichzeitig andere degradiert, die nicht in den Kanon gehören, die aber gleichfalls interessant sein können.
Wer sich also alleine an einem literarischen Kanon orientiert, wird viele interessante Lektüren verpassen und so einige Lektürestunden eines guten Buches an sich vorbeiziehen lassen müssen. Dennoch: Zur Orientierung im Bücherwald, ist es unerlässlich, eine Liste zu haben, von der man weiss, dass sie gut ausgewählt ist, von der man weiss, was die verschiedenen Punkte darauf repräsentieren.
So bleibt man im altbekannten Dilemma: Sucht man sich eine Liste zusammen, die einem als Kanon dient, hat man immer im Bewusstsein, dass die Liste nicht abschliessend sein kann. So liest man sich von Liste zu Liste, bis man dann selbst eine eigene Liste zusammenstellt.
Einige Listen:
- Griese, Sabine/Kerscher, Hubert/Meier, Albert/Stockinger, Claudia: Die Leseliste. Kommentierte Empfehlungen. Stuttgart: Reclam, 1994.
- Der Kanon (von Marcel Reich-Ranicki)