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Papierne Existenz

«Sie können Sich nicht ausweisen? Bitte füllen Sie das Formular aus. Wir telefonieren, dann stellt sich heraus, ob es Sie gibt.» Im nächsten Moment drückt der Kontrolleur seinem Opfer das Blöcklein mit den Möglichkeiten Name, Vorname, Geburtsdatum, Adresse, Telefonnummer und Unterschrift in die Hand. Es gibt keine Vorschläge, wie es sein Formular ausfüllen könnte. Nur eine Einschränkung, ganz am Schluss, mit der es bestätigt, dass die Angaben der Richtigkeit und Wirklichkeit entsprächen.

Am Telefon krächzt der andere das Geburtsdatum in den Zugraum: «Fünfzehnter Siebter Neunzehnachtundachtzig. Normannstanne, Orangenblüte, Tamiflu, Zahnpaste.»

«Sie gibt es wirklich.»

Selbst die Mäuse

Zum wiederholten Mal steht man am Bahnhof, der vor drei Jahren irgendein Bahnhof war, dann aber zum wichtigsten Umsteigebahnhof wurde, wie überhaupt vorher Bahnhöfe einfach Bahnhöfe waren, ausser dem grossen in der Stadt, wo man den Leuten winken durfte, wenn sie in die Ferien gingen oder wenn man selbst einen Ausflug machte.

Nun ist ja eben dieser Bahnhof, an dem die Mäuse sitzen, mitten in den Gleisen zwischen abgebrannten Zigaretten, nicht mehr irgendein Bahnhof, seit die Distanzen nicht mehr ohne Weiteres mit dem Velo zu machen sind. Diese Mäuse geben dem Bahnhof ein lebendiges Gesicht. Sonst wäre es nur ein Ort des Durchgangs, an dem sich Leute darüber aufregen, dass schon wieder mit gelber Farbe eine Verspätung von 4 Minuten angezeigt wird.

Und so kommt man jeden Tag in den Genuss eines Mäuseanblicks, obwohl man sich nicht vorstellen kann, wie diese Geschöpfe es zwischen den Gleisen und den noch brennenden Kippen aushalten, dass sie sich gar vom Anblick der Menschen, die da oben ein- und aussteigen, vereinzelt auch hinuntersteigen, ein Leben machen können.

Das alles ganz im Gegensatz zu den Mäusen, die sich eigentlich auf den Schreibtischen tummeln müssten, weil sie an elektronenspeienden Geräten angeschlossen sind, aber nur im Laden herumliegen, weil niemand sich ihrer erbarmen wollte.

Denn das spüren die Mäuse: Die Leute müssen sparen bei den Mäusen. Jeden Krümel Brot müssen sie verwerten, jedes noch so kleine Stücklein. Und wovon sollen sie leben? Das weiss bald keiner der beiden mehr: Die Mäuse nicht, weil sie nicht wissen, wann der nächste kommt, der ein Stücklein Brot hinunterwirft; die Menschen nicht, weil sie nicht wissen, wann jemand die nächste Maus kaufen wird.

Alles eine Frage der logischen Technik.

Aber der Zug rollt doch noch (79)

Heute am Bahnhof: Es herrscht eine riesige Aufregung. Nein, diesmal nicht, weil der Strom ausgefallen wäre (wie am Tag zuvor), sondern – was einem Pendler oder einer Pendlerin gar nicht als bemerkenswert auffallen
würde – weil sich der Zug noch im Rollen befindet, währenddem sich die Türen öffnen.

Das Gespräch – leider nicht O-Ton, sondern ein aus dem Gedächtnis rekonstruiertes Transkript. Ich weiss, dass ich mich damit in Teufels Küche begebe, denn kein Gedächtnis kann ein Gespräch so gut in Erinnerung behalten, dass es dem tatsächlichen Gespräch entspricht; dies sei mir hier aber verziehen. Abgesehen vom inhaltlichen Dilemma der Gesprächswiedergabe stellt sich auch eine sprachliche Schwierigkeit: Meine Erinnerungen sind in einem Zürcher-Dialekt, obwohl sich die beiden Gesprächspartner in einem Thurgauer-Dialekt unterhielten.

Aber auch das wollen wir hier als Nebensache behandeln. Ausschlaggebend, auch für diesen Blog-Beitrag, ist das Faktum, dass das Gespräch etwas Alltägliches zum Extraordinären macht. Der Alltag wird dadurch spannender, nachdenklicher und bestimmt auch lebenswerter, denn «normal» geglaubte Strukturen werden aufgebrochen und hinterfragt.

Mädchen: Aber dä fahrt ja no.

Mutter: Ja, das schtimmt.

Mädchen: Dä Maa isch abär vorhär uusgschtigä und dä Zug isch no gfahrä.

Mutter: Aber nur ganz langsam, das isch dänn nid so schlimm.

Mädchen: Aber jetzt hät är ganz aghalte. Jetzt chömmer usschtige.

Dies der Kommentar einer jungen Zugfahrerin und ihrer Mutter, als die S8 aus der Richtung Frauenfeld kommend, bevor sie ausstieg und der Beobachter dieser Begebenheit sehnsüchtig darauf wartete, endlich aufs Trittbrett aufzuspringen.

Leider nicht ganz so spektakulär wie die Brüder in Indien auf den Darjeeling Limited aufgesprungen sind, dafür aber für eine umso kürzere Bahnfahrt, die ausser einigen «gut» riechenden Mitfahrenden, und dies sogar im Winter!, nicht wahnsinnig Spektakuläres oder Sinnliches zu Tage gefördert hat.

Oma erklärt Mehrklassengesellschaft im Zug (31)

Schon wieder (vgl. Opa erklärt SBB-Anzeigetafeln) so ein interessantes Gespräch aufgeschnappt. Zugfahren ist eben doch lustig! Und wenn ganz junge Menschen mit dem Zugfahren sozialisiert werden noch lustiger! Diesmal hat eine Oma die Aufgabe übernommen, mit ihrem Enkel einen Tagesausflug mit DarVida im Rucksack zu unternehmen. So oder ähnlich hat sich das Gespräch auf der Strecke Winterthur–Zürich in der S12 abgespielt. Ich entschuldige mich dafür, dass die richtigen Dialekte leider bei der Transkription verloren gegangen sind.

Enkel: Wieso häts det äne so wenig Lüt?Oma: Das isch äbe erschti Klass.Enkel: Wieso?Oma: Gsehsch das 1 det näbed de Türe?Enkel: Ah ja.Oma: Und lueg überall isch Nichtraucher (auf eines der unzähligen durchgestrichene-Zigarette-Piktogramme zeigend).

Ganz wenig später, immer noch auf der selben Strecke, dieselben Personen – die Begrüssung in der S12 ist noch nicht gekommen (und wird noch eine Weile nicht kommen).

Enkel: Simmer etzt schnäller als d’Autobahn?Oma: Ja.Enkel: Isch das det äne d’Autobahn?Oma: Nei.

Weil der Zug so schnell fährt, kommen wir doch noch an der Autobahn vorbei.

Oma: Log da die Pfiiler, das isch d’Autobahn.Enkel: Aber mängisch isch mer mit em Auto glich schneller, lueg.Oma: Ja, aber mit em Zug chunt mer nid in Stau, und au nid in Fiirabigvercher.Enkel: Und mer mues ken Parkplatz sueche.

Opa erklärt SBB-Anzeigetafeln

Letzte Woche habe ich folgendes oder ein ähnliches Gespräch aufgeschnappt:

Opa: Was ist das für eine Zahl unter »Gleis«?

Enkelin*: G L E I S# Foifi.

Opa: Ja genau, das ist Gleis fünf. Und was sind ist denn das 17.11?

Enkelin: Weissi nöd.

Opa: Das bedeutet 17 Uhr 11, dann fahren wir mit dem Zug ab. Und das wusste ich. Deshalb mussten wir ja auch so schnell zum Bahnhof gehen.

Legende

*den Leuchtstreifen nach zu schliessen, wohl im Kindergarten-Alter.

#buchstabierend

Kommentar

Die Anzeigetafeln enthalten schon unheimlich komplexe Informationen! Und durch unsere Sozialisation mit dem Zugfahren wissen wir genau, welche Zahl und Welche Buchstaben an welchem Ort was bedeuten. Wir bemerken sogar, wenn die Anzeigetafel verrückt spielt und die S12 von Winterthur in Sektor A an ein anderes Zielort fahren als in den Sektoren B und C…

anzeigetafel_sbb

Bild: Eine prototypische Anzeigetafel der SBB. Ein grösseres Bild kommt mit Klick! Quelle: SBB.