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Mehr Unterschiede als Buchstaben (115)

Wir erinnern uns nur allzu gerne daran: Als Schüler der Primarklassen sassen wir manchmal stundenlange vor einem Hellraumprojektor-Text, den es abzuschreiben galt. Nicht dass es noch keine modernen Kopergeräte gegeben hätte; nein, es war wohl zum Zweck der schönen Schreibung gedacht. Damals gab es nämlich noch die Schönschreibhefte, in die man keine Tintenkleckse reinmachen durfte, wo aber auch der Tintenkiller nicht gerne gesehen war, denn schon nach kurzer Zeit würden die Seiten vergilben, wegen der Chemie, die in diesen Killern steckt, pflegte der Lehrer jeweils zu sagen.

Von den chemikalischen Tintenkillern gleichermassen gelöst wie von den Kleckse verursachenden Tintenschreibmittel Füllfederhalter, der Federkiel wurde nie benutzt, und zum bequemen Tintenballroller übergegangen. Der grösste Nachteil, die Tinte nicht einfach mit einem Wunderstift wieder einsaugen zu können, offenbart sich als grösster Vorteil: Gedankengänge können nachvollzogen werden, wenn sich auf einer Seite Falsches durchgestrichen neben Richtigem präsentiert. Die Tinte verflüchtigt sich nicht in vergilbten Stellen, sondern artet höchstens in einem abartig anzusehenden Schlachtfeld von Gedanken aus.

Falls man wegen eines allzu exzessiven Streichkonzertes den Sinn des Aufgeschriebenen nicht mehr aus den eigenen Notizen rekonstruieren kann, ist man dank Literaturangaben und liebenswerten MitstudentInnen (das Wort KommilitonInnen benutze ich nur äusserst ungern) in einigen Fällen wieder dazu fähig, aus den eigenen Mitschriften einen Sinn herauszulesen. Wie aber steht es mit Texten, die einen weiten Überlieferungsweg hinter sich haben?

Das neue Testament in der Version der King James-Übersetzung

Bild: Das neue Testament in der Version der King James-Übersetzung. Bearbeitet von flickr (Ursprünglich fotografiert: Misty P.).

Die Bibel könnte man hier als Paradebeispiel aufführen. Die Schriften des Neuen Testaments haben eine gut 2000-jährige Tradition hinter sich. Zwar schon als schriftlich festgehaltene Quellen, allerdings in einer total unübersichtlichen Flut von Papyrii, die zu allem Unfug noch nicht einmal den selben Wortlaut enthalten. Wie soll man da herausfinden, welches denn jetzt der Text ist, von dem es sinnvoll ist auszugehen?

Dass man mit Übersetzungen äusserst vorsichtig umgehen sollte, lehren uns die modernen Übersetzungsmaschinen von Google, Altavista, Babelfish und ähnlichen Maschinerien. Dass man mit den automatischen Übersetzungsprogrammen eine Fülle an neuen Texten generieren kann, ist auch im Beitrag Rückübersetzt nachzulesen. Was den Ausgangspunkt von einem NY Times Text von demjenigen der Bibel grundsätzlich unterscheidet ist allerdings dessen Einheitlichkeit. Für diesen kurzen Abschnitt gibt es nicht auch noch Varianten, die man beachten müsste, und doch ist die Übersetzung nicht das, was man ursprünglich einmal hatte.

Genau diesem Phänomen gilt es Rechnung zu tragen, will man sich nicht in der Auslegung eines biblischen Textes verirren, wenn man nur eine Variante vor sich hat. Manchmal ist es auch schon gut, nur mehrere Übersetzungen nebeneinander zu legen, will man sich nicht die Mühe machen, extra für die Lektüre des Neuen Testaments, einen Griechisch-Kurs zu besuchen. Die verschiedenen Übersetzer akzentuieren nämlich in ihren Übersetzungen bestimmte Merkmale unterschiedlich.

Gerade beim Neuen Testament sind es aber nicht nur Übersetzungsprobleme, die irritieren können und schon manchen Interpreten in die Irre geführt haben oder gar einen Ausleger mit der Etikette eines fundamentalistisches Auslegers versehen haben. Dass man bei einem Textkorpus, das eine so reiche Tradition hat wie das Neue Testament, besonders Acht geben sollte, bevor man sich auf die Äste hinaus wagt ist da schon fast nicht mehr erwähnenswert.

Zu diesem Thema gibt es auch interessante Videos bei Youtube: Der Bible Scholar Bart D. Ehrman erklärt in seiner Stanford Lecture den Sachverhalt in der Überlieferungsgeschichte des Neuen Testaments. Das Video ist in zehn Teile unterteilt. Folgend die Links: Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8, Teil 9, Teil 10.