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Linkeria #25: Zweifler (Woche 8, 2010)

Jeden Samstag 3 Links und Kürzestzusammenfassungen zu interessanten, visionären, relevanten und lesenswerten Texten aus dem Web. Anregungen werden gerne per Mail entgegengenommen: linkeria [affenschwanz] textworker [punkt] ch

Dritte Potenz der Seele

Jeder muss wissen, was er lesen soll, in welcher Reihenfolge er lesen soll und in welcher Weise er lesen soll. Dies ist die Idee des Augustinermönchs Hugo von Sankt Viktor, während er sein Didascalicon schreibt. Im ersten Kapitel macht sich Hugo Gedanken über die Artes, die Wissenschaften: Was gehört zu den Artes, weshalb beschäftigt sich der Mensch mit ihnen? Die Überlegungen, die Hugo in der Zusammenstellung seiner Leseanleitung anstellt, sind äusserst weitläufig und spannend.

Man muss sich beispielsweise Gedanken über die menschliche Seele machen. Hugo teilt die Seele zu diesem Zweck in drei Potenzen ein: eine, die dem Körper das Leben zufügt, eine, die zur Unterscheidung durch die Sinneswahrnehmung befähigt und eine dritte, die sich auf die Kraft des Geistes und der Vernunft stützt. Und genau diese dritte Potenz unterscheidet den Menschen von Gräsern, die nur mit der ersten Potenz bedacht sind, und von Lebewesen, die mit Sinneswahrnehmung ausgestattet sind:

«Diese Potenz steht nur dem Menschengeschlecht allein zur Verfügung. Sie nimmt nicht nur vollkommene und wohlbegründete Sinneseindrücke und Vorstellungen auf, sondern erklärt und bestätigt auch durch einen vollgültigen Erkenntnisakt, was das Vorstellungsvermögen dargeboten hat. Dieser göttlichen Natur genügt es daher, wie gesagt, nicht, das zu erkennen, was sich ihren Sinnen darbietet, sondern indem sie aus Sinneseindrücken Vorstellungen bildet, ist sie auch in der Lage, gegenwärtig nicht vorhandenen Dingen Namen zu geben, und was sie durch ihr Erkenntnisvermögen erfaßt, das enthüllt sie durch die Benennung mit Wörtern. Denn auch das ist dieser Natur eigen, daß sie mit Hilfe des Bekannten das Unbekannte erforscht, und von allem will sie nicht nur wissen, ob es sei, sondern auch was, wie beschaffen und sogar warum es sei.» (S. 121)

Wie würde ein Hugo von heute erklären, dass die dritte Qualität dieser Natur abhanden gekommen ist?

Literatur:

Hugo von Sankt Viktor: Didascalicon de studio legendi. Studienbuch, lateinisch-deutsch. Hg. von Thilo Offergeld, Freiburg (Breisgau) [u.a.]: Herder 1997 (Fontes Christiani 27) mit Abdruck des von C.H. Buttimer edierten lateinischen Textes, Washington 1939 (= The University of America, Studies in Medieval and Renaissance Latin 10).

Die Seele ist…

Im Tösser Schwesternbuch soeben auf ein besonders schönes Zitat gestossen:

Die sel ist ain als gar gaistlich ding das man sy ze enkainen liplichen dingen aigenlich gelichen mag. Doch won du sin als ser begerest, so gib ich dir ain gelichus, by der du ain wenig verston macht wie ir form und ir gestalt was. Sy was ain sinwel schoenes und durchlúchtendes liecht, gelich der sunnen, und was ainer goltfarwen roeti, und was das selb liecht so gar unmas schoen und wunnenklich das ich es zuo núti gelichen kan. Won werint alle sternen die an dem himel stond, als gross und als schoen als die sunn, und glastind die alle in ain: der glantz aller moechte sich nit gelichen der schonhaitdie an miner sel was und dunkt mich das ain glantz von mir gieng der alle die welt erluchte, und ain wunneklicher tag wurde úber alles ertrich, und in disem liecht, das min sel was, sach ich Got wunneklich lúchten, als ain schoenes liecht lúchtet usser ainer schoene lúchtenden lucernen, und sach das er sich als ineklich und als guetlich zuo miner sel fuogt das er recht geainbart ward mit ir und sy mit im.[…]»

(Stagel, Elsbet: Das Leben der Schwestern zu Töß, hrsg. Ferdinand Vetter, 1906, S. 57–58.)

Wie gesagt, eine ganz schöne Beschreibung, die im Mittelalter entstanden ist. Vor allem natürlich auch, wenn man diese Vorstellung des Seelenlebens mit der heutigen, seelenlosen Vorstellung des Lebens vergleicht. Im Rahmen der Psychologie wird der Psyche (griech. ψυχή, heisst ebenfalls Seele), bloss noch die Funktion beigemessen, Probleme zu bereiten.

Es werden Medikamente entwickelt, die das Seelenleben, hier befindet man sich auf terminologischem Glatteis, wenn man nicht vom Psychenleben spricht, auf einen normalen Zustand eindämmt. Die Lösung aller Probleme: eine Pille mehr für das tägliche Leben schaltet die Seele aus. Die Seele passt nämlich nicht ins Konzept der Naturwissenschaften: Ein Relikt der mytholigschen Art, die Welt zu beschreiben, mit bösen Ritualen, für welche man einen Menschen heute für verrückt erklären würde.

Welches ist die richtigere Art der Beschreibung der Welt? Gibt es eine Weltformel, die alle Probleme der Menschheit löst? Oder sind es vielmehr Geschichten, die uns das Leben auf dem blauen Planeten plausibel erklären? Kann der Nicht-Spezialist die Weltformel verstehen? Oder wird es, falls es die Weltformel dann geben sollte nur noch Spezialisten geben – die Evolution löst ja schliesslich alle Probleme?