Alle Beiträge von Claudio

Gelesen: Stine

Fontanes Spätwerk Stine lohnt sich sehr zu lesen: So eine Art Romeo und Julia bearbeitet von Fontane, also über die Stände greifend und natürlich das Schlimmste nicht vermeidend. Der Spannungsbogen wird sauber aufgebaut, und zum Schluss fliegt der Pfeil richtig schnell und dann ists auch schon fertig.

Nicht so viel Geplauder wie im Stechlin, aber auch für diese Erzählung bekommt Fontane wohl seinen Causeur.

Fontane, Theodor. Stine : Roman. Stuttgart: Reclam, 1989. 

Gelesen: Corpus Delicti. Ein Prozess

Stellen Sie sich vor, Ihnen wird der Prozess gemacht, weil Sie versäumt haben, die 300 Kilometer pro Woche auf Ihrem Fahrrad abzustrampeln, die Sie sich fürs Neue Jahr vorgenommen haben. Dann befinden Sie sich in einer ähnlichen Situation wie Mia, die Protagonistin von Juli Zehs Erzählung Corpus Delicti. Allerdings hat sich Mia die Fahrradkilometer nicht vorgenommen; sie sind ihr vom Staat, vom System auferlegt, damit sie die Bewegung bekommt, die einem in einem totalen Gesundheitsstaat vorgeschrieben ist.

Zeh entwirft in ihrer Erzählung Corpus Delicti die Dystopie einer Gesellschaft, auf Vernunft und der Methode basiert. Die Methode ist ideologischer Ersatz und Lösung für alle Probleme, die in einer Gesellschaft im Alltag anfallen. Und – das wird von einer Methode schliesslich erwartet – sie hat totale Deutungshoheit über schwierige Fälle.

Interessant und lesenswert ist das Buch nicht wegen den Ausführungen auf die Methode, sondern wegen den personellen Verstrickungen, die sich während des Prozesses zeigen. Ein Anwalt, der sich verselbständigt und seine Mandantin für höhere Zwecke benutzt, virtuelle Personen wie die ideale Geliebte oder öffentlichkeitsgeile Fernsehinterviewpartner, denen zum Schluss hin alles aus dem Ruder läuft in einer Gesellschaft, die darauf getrimmt ist, nichts aus dem Ruder laufen zu lassen.

Dies alles wird immer wieder in den Modus des Spiels verlegt:

Mia schweigt. Die Richterin hat sich geirrt, als sie glaubte, dass die Beschuldigte sich nicht an sie erinnern könne. Mias Gedächtnis zeigt Sophie als eine von vielen schwarz gekleideten Puppen in den Kulissen einer Geisterbahn, ganz hinten im Windschagtten des Schwurgerichts, halb sitzend, halb verborgen vom vorsitzenden Richter, den Beisitzern und Protokollanten. (53)

Das Setting dieser Puppengeschichte wird auf eindrückliche Weise und mit viel Autoreflexion durchbrochen durch Erinnerungspassagen, die von der Verurteilung von Mias Bruder Moritz erzählen. Oder durch Reflexionen über das Leben, die im Laufe des Buches immer ausgereifter werden und die Totalität der Dystopie durchbrechen:

Dem wahren Menschen genügt das Dasein nicht, wenn es ein bloßes Hier-Sein meint. Der Mensch muss sein Dasein erfahren. Im Schmerz. Im Rausch. Im Scheitern. Im Höhenflug. Im Gefühl der vollständigen Machtfülle über die eigene Existenz. (92)

Zeh, Juli. Corpus Delicti. Ein Prozess. München: btb, 2010. 

Zeigen Sie Zähne

«Beissen Sie auf die Zähne! Ja, so ist schön, bleiben Sie jetzt genau so und bewegen Sie sich nicht mehr.» – Wie denn auch in dieses Gestell eingespannt? Stäbe fixieren die Ohren, ein weiteres Element die Stirn, der Unterkiefer, die Mandibula bleibt beweglich, und um den geht es ja schliesslich.

Beim zweiten Mal haben sie den Auftrag bekommen, ein Bildlein zu machen in geöffnetem Zustand. Der Orthopäde mit Doktortitel und mehrfachem Fähigkeitsausweis hilft seiner Röntgenassistentin, die richtige Position zu finden: «Öffnen Sie Ihren Mund so weit wie möglich. Und: Zeigen Sie Ihre Zunge, die muss so weit runter wie es nur geht! So wird’s schön, ja genau.» Und Sie, Sie bewegen sich jetzt nicht, sonst können wir das Bild nicht brauchen.

«Nein, sowas verstehen wir nicht als offen, das ist ja völlig unbrauchbar. Offen ist Ruhestellung! So offen sollte man nicht sein.»

Ein drittes: «Schlucken Sie! Jetzt ist die Zunge schön entspannt. Passen Sie auf die Zähne auf, die dürfen Sie nicht zusammenbeissen.»