Archiv der Kategorie: Gelesen

Königsberg ver-rückt

Der Name, den man prototypischerweise mit Königsberg in Verbindung bringt, ist kein anderer als derjenige Immanuel Kants. Den Namen, den man mit den Kritiken verknüpft, und dann natürlich noch mit dem Gerücht, dass derjenige, der den Namen trägt, zeit seines Lebens nicht aus Königsberg herausgekommen sein soll.

Thomas Bernhard schickt Kant auf eine Amerikareise. Und das mit einem Schiff, wo sich See- und Sehkranke treffen, alle mit dem gemeinsamen Ziel. Die Figuren dürfen wiederholen und variieren, ganz nach dem Prinzip, dass Variation erfreut.

Und was ersieht man an Bernhards Kant? – Variationskunst ist ver-rückte Kunst, da wird aus einer Millionärin eine Millionärrin; Königsberg verortet sich nicht nur im heutigen Russland, sondern ist gerade da, wo Kant auch ist, im Stück also auf dem Weg nach Amerika. Denn Kant bringt Amerika die Vernunft, Amerika gibt Kant das Augenlicht, so einfach die Formel als gäbe es nichts Selbstverständlicheres.

Es ist ein ver-rücktes Stück, dem das Zitat «… es soll nicht heißen, daß man im Theater Leben darstellen soll…» von Antonin Artaud vorangestellt ist. Da bleibt nur noch die Frage, was sich im Theater dann darstellt, wenn man auf der Bühne nicht das Leben Kants mimt (was man ja derzeit am Pfauen ja macht).

Das Stück findet sich in: Thomas Bernhard: Immanuel Kant. In: Derselbe: Stücke 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988 (= Suhrkamp Taschenbuch 1534).

Regentrude

Beim Schreiben des Beitrags zu Beedle the Bard ist mir ein anderes Märchen wieder in den Sinn gekommen. Wohl wegen des Titels, den ich gesetzt habe. Und zwar ist es die Regentrude. Wer es noch nicht kennt, sollte es unbedingt lesen, noch besser wäre wohl, wenn man es sich als Kind erzählen lassen könnte.

Entdeckt habe ich es 2006 in einem verstaubten Buch aus der Bibliothek der Kanti. Allzu lange hat sich niemand für Theodor Storm interessiert, so hat sich am Buch eben Staub angesetzt. Da Märchen aber wohl etwas sind, was mit Aktualität nicht unbedingt mehr Charakter gewinnt, soll die Regentrude recht sein. Und weil das Digitalisationsprojekt Gutenberg schon ziemlich fortgeschritten ist, kann man die Regentrude auch da anlesen.

Vielleicht liest man die Regentrude seinen Kindern aber lieber aus einem Buch vor, weil das wohl der Stimmung, in die man sich begeben soll, während man einem Märchen gespannt lauscht, eher entspricht. Oder man erzählt das Märchen ohne schriftliche Grundlage, so wie wohl vor der schriftlichen Fixierung Märchen erzählt wurden. So kann man ja auch eigene Schwerpunkte setzen, die Geschichte so tradieren, wie sie einem am besten gefällt, damit sie den nachfolgenden Generationen auch in dieser Weise tradiert wird.

So bewahrt man sich und seiner Familie alte Erzähltraditionen und -stoffe, während morgen Märchen vielleicht schon mit Powerpoint-Präsentationen erzählt werden. Es soll ja heute schon Menschen geben, die  ihre Liebe zur Angebeteten per Powerpoint verkünden.

Gelesen: Ein Leben mit dem Islam

Navid Kermani hat im vor fast zehn Jahren ein schönes Buch zu Nasr Hamid Abu Zaid herausgegeben: Ein Buch, das von einem Islamwissenschafter handelt, der einen besonders steinigen Weg zu gehen hat. Heute lehrt er an der Universität Leiden in den Niederlanden, nachdem er in Ägypten, seinem Geburtsland, nicht mehr lehren durfte und von seiner Frau zwangsgeschieden wurde.

In der Reihe «Der Islam und der Westen» der Zeit gibt es auch ein Interview mit Abu Zaid, wo er ausführt, weshalb der Koran als historischer Text gelesen werden soll: Als Text, der nicht von seinem historischen Entstehungskontext losgelöst gelesen werden kann. Eine Herangehensweise, die nicht jeden Muslim zu überzeugen vermag, weil die Offenbarungen im Koran schliesslich Gottes Wort sein sollen.

Parallelen muss man gar nicht lange suchen: Auch Gläubige anderer Religionen beharren darauf, dass ihre Glaubensgrundlagen, so sie denn geschriebene Texte sind, Einhauchungen der göttlichen Macht sind, wobei ganz einfach der Fakt der Tradition, also die Tatsache der Überlieferung, übersehen wird.

Das Buch über den Islamwissenschafter Nasr Hamid Abu Zaid ist sehr erfrischend zu lesen und zeigt einen Kontrapunkt zum Islam, der fast täglich in den westlichen Medien präsentiert wird. Kein Bild eines militanten Islams wird vertreten, denn der Protagonist ist selbst Opfer dieser Art des Islams; vielmehr ist es ein weltoffener Blick auf eine der drei Weltreligionen, die in Lessings «Nathan der Weise» eine Rolle spielen.

Das Buch: Navid Kermani (Hrsg.): Ein Leben mit dem Islam. Herder, Freiburg i. Br. u.a. 1999.

Semiotik: Weg aus dem Schilderwald

Noch zu Ostern verstand ich es eher als Witz, als ich sagte, dass sich in Italien innovative Semiotik entwickeln kann, weil niemand im Wald der Verkehrsschilder den richtigen Weg findet.

So sucht man den richtigen Eingang zum Bahnhof Termini, wenn man von der Seite von McDonald’s herkommt nur, wenn man zuerst durch einen Beauty-Laden hindurchgeht. Dies aber nicht unbedingt auf Anhieb, schliesslich will man den richtigen Weg nur dem eingeweihten offenbaren.

Chaos auf den Strassen Roms (und Fussgänger, die vor den Vatikanischen Museen in der Reihe stehen)
Chaos auf den Strassen Roms (und Fussgänger, die vor den Vatikanischen Museen in der Reihe stehen)

Mit etwas mehr Ernst sehe ich diese Sache nun, da ich das Einleitungskapitel zu Umberto Ecos «Eine Semiotik und Philosophie der Sprache» lese. Zwar musste ich auf den ersten Blick laut loslachen, aber die Erkenntnis beruhigt gleichzeitig wie sie beunruhigt: Auch Geisteswissenschaften können einen direkten Nutzen für den Endverbraucher haben.

Wo die Naturwissenschaften nicht nur rein technologische Zwecke, sondern auch manipulative Interessen haben: «Ebenso [wie die Kenntnis der Anatomie die körperliche Leistungsfähigkeit verbessern kann, (Anm. C.N.)] kann die Beschreibung der inneren Logik der Verkehrszeichen einer öffentlichen Behörde Hinweise dafür geben, wie sie die Praxis der Straßenbeschilderung verbessern kann.» (S. 18)

Eines aber kann doch beruhigen: Eine solche Verbesserung der Umstände entsteht nicht als automatisches Nebenprodukt der wissenschaftlichen Forschung, sondern aus freier Entscheidung wie gleich darauf im Buch verhandelt wird.

Bibliografische Angaben: Eco, Umberto: Semiotik und Philosophie der Sprache, Fink, 1985 (= Supplemente 4).

Mehrkarteien-System

Umberto Eco ist bekanntlich nicht nur ein renommierter Schriftsteller, der sich mit «Der Name der Rose» weltweit einen Namen gemacht hat: Er ist auch in der Wissenschaft ein Name, mit dem sich Sprach- und Literaturwissenschaftler auseinander setzen, vor allem dann, wenn sie sich mit Semiotik beschäftigen.

In viel allgemeinerer Weise ist ein Buch Ecos im Umlauf, was auf Deutsch den Titel «Wie man eine wissenschaftliche Abschlußarbeit schreibt» trägt. Ein Buch, das einem nicht nur für die Abschlussarbeit nützt; man sollte sich dieses nette Büchlein am besten gleich am Anfang des Studiums zu Gemüte führen, schliesslich finden sich darin allgemeine Tipps zum richtigen Bibliografieren, der Organisation von Zusammenfassungen, Exzerpten und allerhand Dingen, die für den wissenschaftlichen Alltag von Belang sind.

Dies geschieht nicht auf oberschulmeisterliche Art und Weise, sondern in einem Ton, der sich angenehm liest. Statt eines Drohfingers zeigt das Buch bloss Beispiele auf, die sogar der naive Wissenschaftler, der sich mit Wissenschaft noch gar nicht auskennt, als lustig empfindet.

Eco plädiert in seinem Buch dafür, dass man sich mehrere Karteien anlegt, während man arbeitet: Eine Titel-Kartei, in der man alle Titel verzeichnet, die man suchen möchte und eine für Notizen. Ob und wie sich diese Aufteilung halten lässt mit den elektronischen Hilfsmitteln, die in der 4. Auflage, die ich gerade vor Augen habe, noch nicht wahnsinnig verbreitet waren, bleibt zu diskutieren oder in einer neueren Auflage nachzuschauen.

Bibliografische Angaben: Eco, Umberto: Wie man eine wissenschaftliche Abschlussarbeit schreibt. Doktor-, Diplom- und Magisterarbeit in den Geistes- und Sozialwissenschaften. 4. Auflage der deutschen Ausgabe, Heidelberg, 1991. (Seither sind schon unzählige Auflagen nachgedruckt worden.)