Archiv der Kategorie: Gelesen

Radio im Ehrenamt (75)

Mit byte.fm geht in einer halben Stunde ein Radio auf Sendung, das Musik entdecken will. Nicht wie last.fm, wo der Hörer selbst aktiv werden muss, um Musik im gewünschten Stil zu bekommen und gleichzeitig Neues zu entdecken, sondern als moderierte Sendung.

Im Interview mit der Zeit verrät Ruben Jonas Schnell, dass die Moderatoren vorerst ehrenamtlich mitarbeiten werden.

Das Radio will auch Musik entdecken: Sendungen mit klingenden Namen wie «Was ist Musik?», «Zimmer 436», «Tropeninstitut» wird – so das Ziel – das Hörspektrum erweitert. Dann freuen wir uns doch schon mal auf ein engagiertes Webradio. Auf einen guten Start!

Momentan präsentiert sich das Radio im Internet noch folgendermassen:

byte.fm vor dem Start

Update:

Das Radio ist jetzt online. Wie gerade im Blog vermeldet, gibt es noch ein paar servertechnische Probleme. Wenn das nur gut geht, ein Internetradio, bei dem die Server nicht machen, was die Sendeleiter wollen?

Update vom Update:

Jetzt ist alles wieder da. Und man kann wirklich etwas hören, auch wenn nur Bit um Bit, Byte um Byte vom Server auf die Boxen tröpfeln. Was ich bis jetzt gehört habe, klingt ziemlich spannend.

Literatur kann auch heilen (73)

Blake Morrison hat beim Guardian einen äusserst rührenden Artikel über das Lesen als Therapie veröffentlicht. Bibliotherapie scheint in Grossbritannien so richtig en vogue zu sein.

Lustigerweise – oder sollte man sagen glücklicherweise? – vertritt der Artikel eine Meinung, die derjenigen aus dem «Lesen und Glück»-Beitrag völlig widerspricht.

In Gruppen lesen diejenigen, die eine Bibliotherapie über sich ergehen lassen:

„The usual pattern is for a complete book to be read aloud, cover to cover, at weekly sessions, which for a group spending an hour a week on a Dickens novel can mean six months devoted to a single work.“

Das gemütliche Zusammensein und gemeinsame Lesen, Woche für Woche schweisst die Patienten mit verschiedensten Krankheiten, darunter auch Parkinson oder Alzheimer, anscheinend zusammen und lässt sie ihre Krankheiten in den Hintergrund treten.

Medizinisch gibt es dafür keine Erklärungen, Blake Morrison wagt gar den Vergleich mit Homöopathie, die gemäss Angaben vieler Menschen gegen Beschwerden nützen, obwohl teilweise gar keine Wirkstoffe festgestellt werden können.

„People who don’t respond to conventional therapy, or don’t have access to it, can externalise their feelings by engaging with a fictional character or be stimulated by the rhythms of poetry.“

Wenn das wirklich funktioniert, eine wahrlich sagenhafte Art der Therapie. Diese Art der Therapie wäre mir persönlich viel lieber als ein Medikamente-Cocktail, dem man die Nebenwirkungen schon sieben Kilometer gegen den Wind ansieht.

Penthesilea (72)

Auf der Liste ist auch das Drama «Penthesilea» von Kleist. Die Nummer zwei in der losen Serie von Rückblicken auf Lektüren aus dem Jahr 2007.

Schon die Form des Dramas lässt staunen: Ein Einakter. Das klassische Drama – und erst recht die klassische Tragödie – streben nach fünf Akten, wobei eine Exposition – die Vorstellung der Figuren und der Szenerie – und ein Wendepunkt spürbar sein sollen.

Mit dieser Regel, die bis auf Aristoteles zurückgeht, bricht Kleist. Das Drama besteht aus einem einzigen Akt mit sage und schreibe vierundzwanzig Auftritten, in denen sich die Situation um Achill und Penthesilea zuspitzt.

Vor dem Hintergrund des trojanischen Krieges positionieren sich die Streitkräfte der Amazonen (hüte sich, wer bei Amazon bestellt, dass ihm nicht gleichgesinnte Frauen mitgeschickt werden – dazu weiter unten mehr) gegen diejenigen der Griechen und Trojaner.

Bereits am Anfang zeichnet sich die kritische Situation ab. Achill kann den Händen der Penthesilea entkommen – ganz knapp erwischt sie den Halbgott nicht an seiner Achillessehne, der einzigen verletzlichen Stelle des Helden. Penthesilea ist darüber derart aufgebracht, dass sie seine Verfolgung aufnimmt.

Penthesilea und das Amazonenheer

Interessant wird das Drama an der Stelle, wo die Amazonen beginnen, das Rosenfest vorzubereiten. Die Vorstellungen über den Frauenstaat, die nur Männer braucht, um das Amazonenvolk zu erhalten, es besteht rein aus Frauen, das versteht sich von selbst, die Männer werden ausgestossen.

Festrosen, Rosen, Rosenfest

Aber eben, es war ja die Vorbereitung des Rosenfests, das eigentlich gar noch nicht hätte vorbereitet werden dürfen. Denn die Regel besagt, dass das Rosenfest erst dann vorbereitet werden darf, wenn der Sieg der Amazonen besiegelt ist und die Männer als die Sklaven der Frauen ausgebeutet werden können.

Aus Küssen werden Bisse

In der entscheidenden Szene wird begonnen zu täuschen: Achill – ganz von der Schönheit Penthesileas geblendet – gibt vor, die Dame habe ihn besiegt. Daraus erwächst auch ein Missverständnis, das Folgen haben wird, die die Tragödie tragisch enden lassen:

«So war es ein Versehen. Küsse, Bisse
Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt,
Kann schon das eine für das andre greifen.»

Eine Orgie also, die das Stück und Achill zu Ende gehen lässt. Penthesilea wird dem Tier ähnlich: Wie die Hunde stürzt sie sich auf Achill und beginnt in zu küssen – und im gleichen Moment zu zerreissen. Aus einem Versehen. Hündischer Mensch, menschlicher Hund aus Versehen. Ein Kuss, kein Meilenstein vom Biss entfernt.

Le Grand Cahier (70)

Der erste Teil einer losen Serie mit Rückblicken auf Lektüren aus dem Jahr 2007. Die Liste befindet sich hier.

Von der Analphabetin zum grossen Heft

Mit dem grossen Heft – so lautet die deutsche Übersetzung von Le Grand Cahier – beginnt eine ganze Trilogie Agota Kristofs. Auf Le Grand Cahier folgten noch La Preuve und Le Troisième mensonge. Gelesen habe ich bis jetzt erst Le Grand Cahier und davor noch ein autobiografisches Werk von Agota Kristof – dieses in der Übersetzung Die Analphabetin: eine autobiografische Erzählung, die beim Ammann Verlag erschienen ist; jenes in der französischen Fassung, die bei Seuil verlegt wird.

Eigentlich ist es die Analphabetin, die mich dazu bewogen hat, auch noch Le Grand Cahier zu lesen. Die autobiografische Erzählung ist wirklich packend und praktisch in einem Atemzug gelesen. Das Schicksal einer guten Schülerin, die aufgrund der politischen Umstände zur Flucht bewegt wird, ist packend erzählt. Umso tragischer wirkt hier der Umstand, dass jemand, der in seiner Sprache zuhause war, sozusagen entwurzelt wird und in der neuen Sprache alles wieder erneut lernen muss.

Das Mädchen wird durch die Flucht schliesslich wieder zur Analphabetin. Mühsam lernt sie, die mit dem phonetischen System der Magyaren vertraut gemacht wurde, sich in einer indoeuropäischen Sprache, dem Französischen auszudrücken. Ein völlig anderes Schreiben und ein Aspekt, der wohl prägend auf das Schreiben der Frau eingewirkt haben dürfte.

Der Weg, den ich zur Entdeckung von Agota Kristofs Werken eingeschlagen habe, scheint mir im Nachhinein eigentlich ziemlich gut, denn – wenn ich mit dem Grand Cahier angefangen hätte, bevor ich die Analphabetin kannte, wäre ich wohl nicht fasziniert gewesen von den geschilderten Umständen, in denen die Zwillinge Claus und Lucas bei ihrer Grossmutter aufwachsen.

La langue étrangère

Parallelen finden sich schnell, denn auch bei Claus und Lucas spielen fremde Sprachen und Nichtverstehen eine grosse Rolle. So lernen sie die fremde Sprache, die alle Offiziere sprechen, welche die Grenze passieren, wo auch die Zwillinge mit der Grossmutter wohnen:

L’officier nous apporte un dictionnaire dans lequel on peut apprendre sa langue. Nous apprenons les mots ; l’ordonnance corrige notre prononciation. Quelques semaines plus tard, nous parlons couramment cette langue nouvelle.
(Der Offizier bringt uns ein Wörterbuch mit, in welchem man seine Sprache lernen kann. Wir lernen die Wörter; der Offizier korrigiert unsere Aussprache. Einige Wochen später sprechen wir diese neue Sprache fliessend.)

Dies als Eindruck vom schöneren Teil des Buches.

Exerzieren

Sauereien kommen einem in Kapiteln entgegen, die betitelt sind mit Exercice d’endurcissement du corps (Abhärtungsübung für den Körper), Exercice d’endurcissement de l’esprit (Abhärtungsübung für den Geist), Exercice de mendicité (Bettelübung). Gedacht sind allesamt dazu, in einem spezifischen Gebiet Unabhängigkeit von der Grossmutter zu erlangen.

Weil die Grossmutter immer wieder mit ihren knochigen Händen zuschlägt, beginnen sich die zwei Brüder gegenseitig zu schlagen im Kapitel, in welchem sie sich die Körper abhärten wollen. Mit der simplen und logischen Erklärung: «Nous décidons d’endurcir notre corps pour pouvoir supporter la douleur sans pleurer.» (Wir haben entschieden, unseren Körper abzuhärten, um die Schmerzen zu ertragen, ohne zu weinen.)

Weil die Grossmutter die Kinder immer wieder kränkt und die Kinder auch von anderen Leuten immer wieder mit unsittlichen Ausdrücken beleidigt werden, müssen sich die Kinder gegenseitig beleidigen, damit es weniger schlimm ist, wenn sie von den anderen beschimpft werden.

So geht dies mit diesen exercices fast unaufhörlich weiter, ein Buch also, das von der Abhärtung zweier Buben handelt, die sich erst noch selbst abhärten. Eine Art paramilitärischer Übungen, obwohl die beiden Buben nicht ins Militär werden gehen müssen, weil sie von den falschen sind. Keine Schwäche darf übrig bleiben, damit die beiden ihren Überlebenskampf unter rauen Bedingungen – sowohl körperlich als auch mental verstanden – überstehen können.

Die Lektüre artet in diesem Sinne gewissermassen zu einem Kampf aus. Man lacht, wenn man eigentlich gar nicht lachen wollte oder sollte, bisweilen aus Verlegenheit; man stellt sich vor, was die beiden Buben machen, sehen und denken, obwohl eigentlich unvorstellbar; dabei sieht man auch bei äusserst intimen Handlungen zu – der Abhärtung willen – und wird selbst zu einem kleinen Claus oder einem Marcus und begeht einen Teil der apprentissage de la vie, der einem auf dem Klappentext versprochen wird.

Literatur: Kristof, Agota: Le grand cahier. Roman. Éditions du Seuil, 1986. bzw. deutsch: Kristof, Agota: Das grosse Heft. 18. Aufl. Piper, 2008.

Rückblick – Liste (69)

Die Rückblicke in den Medien lassen es bereits erahnen: Das Jahr 2007 geht seinem Ende zu, Grund genug, nochmals über die wichtigsten Ereignisse nachzudenken. Ich nehme dies zum Anlass, eine kleine Serie zu starten, in der ich über die Texte reflektiere, die mich dieses Jahr beschäftigt haben, die mich besonders bewegt haben, oder ganz einfach, die es wert sind, nochmals gelesen zu werden.

Folgend eine Liste mit den (tlw. auszugsweise) gelesenen Texten (bzw. einer Auswahl) dieses Jahr:

  • André Gide: Les faux-monnayeurs
  • Alarcón Cristian: Der Robin Hood von San Fernando (–> Besprechung auf tink.ch)
  • Agotha Kristof: Le grand cahier
  • Friedrich Schiller: Die Verschwörung des Fiesko zu Genua
  • Friedrich Schiller: Don Karlos
  • Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel
  • Pierre Corneille: Cinna
  • Max Frisch: Der Mensch erscheint erst im Holozän
  • Friedrich Schiller: Der Geisterseher
  • Kathrin Passig/Aleks Scholz: Lexikon des Unwissens (–> Besprechung auf tink.ch)
  • Friedrich Schiller: Don Karlos
  • Sophokles: König Ödipus
  • Shakespeare: Hamlet
  • G. E. Lessing: Minna von Barnhelm
  • G. E. Lessing: Emilia Galotti
  • Joseph Roth: April – oder die Geschichte einer Liebe
  • Heinrich von Kleist: Penthesilea
  • Joseph Roth: Das Spinnennetz
  • Joseph Roth: Das falsche Gewicht
  • Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft
  • Martin Suter: Lila, lila
  • Martin Walser: Zimmerschlacht
  • Joseph Roth: Die Legende vom Heiligen Trinker
  • Thomas Mann: Der Zauberberg

und natürlich noch Aufsätze, die hier nicht erwähnt werden sollen oder ein Haufen angefangener Bücher, der noch auf darauf wartet fertig gelesen zu werden.