In wenigen Minuten

Es soll in wenigen Minuten vorbei sein, dieses köstliche Jahr. Es hat viele Eindrücke hinterlassen, von denen ich einigen auch Ausdrücke zu verleihen versucht habe. Hoffen wir auf ein ebenso interessantes, reiches, lehr- und lernreiches Jahr, das folgt.

Was bedeutet denn der Wechsel vom einen Jahr ins nächste? – Es gibt sicher kompetentere Leute als mich, diese Frage zu beantworten. Menschen, die den Wechsel nicht schon so viele Male verschlafen haben, Leute, die sich eine Feier aus dem Wechsel machen.

Aber eigentlich ist doch gar nichts anders, ausser den Zahlen. Es ist bloss eine neue Zahl, die man schreibt, aber was sind schon Zahlen? Sie stehen auf dem Supermarktzettel, nummerieren die Gebete in Gebetsbüchern, lassen mit Null und Eins fast alles funktionieren. Und sie sind die Zeit, unser wertvollstes Gut. Es sind nur noch wenige Minuten. Die wenigen Minuten sind so vergänglich wie die grossen Zahlen, die dieses Jahr aus den Börsen gepurzelt sind. Zahlen sind eben doch wichtig.

Dabei kommt mir aber ein Zuggespräch in den Sinn: Es ging um die Kunst, einen Video zu produzieren. Die heutigen Filmer seien allzu versessen auf die Timeline, dabei sind es doch die Bilder, die wichtig sind. Lauter Einzelbilder, die sich aneinanderreihen sollen, die ineinander zerfliessen sollen, machen doch einen Film aus. Der Ton, der perfekt dazu passen soll, nicht die Linie, die in der Software zum Filmeschnippseln als Existenziallinie angeführt wird. Schlussendlich soll es eine kilometerlange Schlaufe werden, die in ein Abspielgerät hineinpassen soll. Aber das scheint den Zuschauer nicht zu interessieren. Dinge solcherart interessieren ihn nur, wenn es einen Filmriss gibt. Den Zuschauer interessiert die Geschichte, die Spannung, die Stimmung, die der Film erst schafft.

Was sind schon Zahlen? Geschichten sind doch eigentlich die wichtigen Dinge. Und doch: Zahlen sind wichtig. Jeder hat verschiedene Zahlen und Nummern. Auch Sie, gerade während Sie diesen Text lesen: Die informatischen Maschinen brauchen Zahlen.

In diesem Sinne alles Gute fürs nächste Jahr. Bitte auch beim Filmriss daran denken.

Nobelpreisträger bloggt

Eigentlich finde ich es ja langweilig, in Blogs bloss über Blogs zu lesen oder zu schreiben. Dieser neue Blogger hier scheint mir allerdings einen Beitrag wert zu sein: José Saramago, der Literatur-Nobelpreisträger von 1998, bloggt. In einem El País-Artikel legt er seine Gründe fürs Bloggen dar. Der erste Blog-Beitrag im «Cuaderno» ist eine Liebeserklärung an die Stadt Lissabon, wo Saramagos Stiftung ihren Sitz hat.

Endlich ein Grund, sich einen spanischen Dictionnaire anzuschaffen, vielleicht auch eine kleine Grammatik, um sich den Gedanken Saramagos, die er im Blog auf Spanisch (oder Portugiesisch) veröffentlicht, zu nähern. Man kann es im Caderno auch mit Portugiesisch probieren, allerdings scheinen sich da vom Latein her einige gröbere sprachgeschichtlichen Ungehobeltheiten ausgebreitet zu haben. Vor kann ich mir von der geschriebenen vorm zum Lautbild keine richtige «Logik» erschliessen. Logik hier in Anführungsstrichen, weil Sprache ohnehin nur bedingt logisch ist, und die Sprecher sich während des Laufs der Jahrhunderte eher kreativ als logisch betätigen. Dies kann dann zu interessanten Aussprachephänomenen kommen, aber ich merke, dass ich vom eigentlichen Thema bereits wieder abkomme.

Auf jeden Fall könnte man – so man der einen Sprache mächtig wäre – im vergleichenden Lesen der beiden Varianten bestimmt viele Fortschritte im Sprachverständnis machen.

Was natürlich schade ist, und die Idee von Blogs nicht wahnsinnig nahe kommt, ist die deaktivierte Kommentarfunktion, mit der Lesende mit dem Schreibenden in Kontakt treten könnten. So bleibt der Blog – wie im Namen schon vorweggenommen – ein Heft, ohne alle Möglichkeiten des weltumspannenden Gedankennetzes auszureizen.

[Für den Hinweis auf den Blog und den Artikel in El País danke ich dem Perlentaucher.]

Elefanten am Ganges

Da spricht man über Erweiterungen von EU-Grenzen im Rahmen der Bilateralen Verträge, was an sich schon Kuriositätswert hat, wenn sich im Moment die Politik doch um Dinge wie HarmoS, Nachfolge Schmid oder ein flexibles AHV-Alter drehen würden. Es kommen die alten Argumente, dass man Grenzen geschlossen halten muss, damit keine Arbeitsplätze verloren gehen. Und dass Affen und Elefanten ohnehin nicht viel gemeinsam hätten.

Im gleichen Atemzug erwähnt er die neuen Angebote, die er im Internet entdeckt hat: Geisterschreiber aus Indien, die perfekte englische Texte hervorzaubern und keinen goldenen Penny verlangen, sondern sich auch mit weniger zufrieden geben. Oder er erzählt, wie toll es sei, dass seine Bücher jetzt immer diesen würzigen Geruch an sich hätten, speziell dann, wenn er seine Fotobücher mit den Ferienerinnerungen aus Bulgarien im Billigparadies am Ganges drucken lasse.

In solchen Momenten kommt es einem richtig spanisch, nein vielmehr ungarisch vor, während man den nächsten Appenzeller bestellt.

Gelesen: Ein Leben mit dem Islam

Navid Kermani hat im vor fast zehn Jahren ein schönes Buch zu Nasr Hamid Abu Zaid herausgegeben: Ein Buch, das von einem Islamwissenschafter handelt, der einen besonders steinigen Weg zu gehen hat. Heute lehrt er an der Universität Leiden in den Niederlanden, nachdem er in Ägypten, seinem Geburtsland, nicht mehr lehren durfte und von seiner Frau zwangsgeschieden wurde.

In der Reihe «Der Islam und der Westen» der Zeit gibt es auch ein Interview mit Abu Zaid, wo er ausführt, weshalb der Koran als historischer Text gelesen werden soll: Als Text, der nicht von seinem historischen Entstehungskontext losgelöst gelesen werden kann. Eine Herangehensweise, die nicht jeden Muslim zu überzeugen vermag, weil die Offenbarungen im Koran schliesslich Gottes Wort sein sollen.

Parallelen muss man gar nicht lange suchen: Auch Gläubige anderer Religionen beharren darauf, dass ihre Glaubensgrundlagen, so sie denn geschriebene Texte sind, Einhauchungen der göttlichen Macht sind, wobei ganz einfach der Fakt der Tradition, also die Tatsache der Überlieferung, übersehen wird.

Das Buch über den Islamwissenschafter Nasr Hamid Abu Zaid ist sehr erfrischend zu lesen und zeigt einen Kontrapunkt zum Islam, der fast täglich in den westlichen Medien präsentiert wird. Kein Bild eines militanten Islams wird vertreten, denn der Protagonist ist selbst Opfer dieser Art des Islams; vielmehr ist es ein weltoffener Blick auf eine der drei Weltreligionen, die in Lessings «Nathan der Weise» eine Rolle spielen.

Das Buch: Navid Kermani (Hrsg.): Ein Leben mit dem Islam. Herder, Freiburg i. Br. u.a. 1999.

Semiotik: Weg aus dem Schilderwald

Noch zu Ostern verstand ich es eher als Witz, als ich sagte, dass sich in Italien innovative Semiotik entwickeln kann, weil niemand im Wald der Verkehrsschilder den richtigen Weg findet.

So sucht man den richtigen Eingang zum Bahnhof Termini, wenn man von der Seite von McDonald’s herkommt nur, wenn man zuerst durch einen Beauty-Laden hindurchgeht. Dies aber nicht unbedingt auf Anhieb, schliesslich will man den richtigen Weg nur dem eingeweihten offenbaren.

Chaos auf den Strassen Roms (und Fussgänger, die vor den Vatikanischen Museen in der Reihe stehen)
Chaos auf den Strassen Roms (und Fussgänger, die vor den Vatikanischen Museen in der Reihe stehen)

Mit etwas mehr Ernst sehe ich diese Sache nun, da ich das Einleitungskapitel zu Umberto Ecos «Eine Semiotik und Philosophie der Sprache» lese. Zwar musste ich auf den ersten Blick laut loslachen, aber die Erkenntnis beruhigt gleichzeitig wie sie beunruhigt: Auch Geisteswissenschaften können einen direkten Nutzen für den Endverbraucher haben.

Wo die Naturwissenschaften nicht nur rein technologische Zwecke, sondern auch manipulative Interessen haben: «Ebenso [wie die Kenntnis der Anatomie die körperliche Leistungsfähigkeit verbessern kann, (Anm. C.N.)] kann die Beschreibung der inneren Logik der Verkehrszeichen einer öffentlichen Behörde Hinweise dafür geben, wie sie die Praxis der Straßenbeschilderung verbessern kann.» (S. 18)

Eines aber kann doch beruhigen: Eine solche Verbesserung der Umstände entsteht nicht als automatisches Nebenprodukt der wissenschaftlichen Forschung, sondern aus freier Entscheidung wie gleich darauf im Buch verhandelt wird.

Bibliografische Angaben: Eco, Umberto: Semiotik und Philosophie der Sprache, Fink, 1985 (= Supplemente 4).