Archiv der Kategorie: Eindrücke

Linguistik tötet

«Endlich lerne ich, wie man isst, ohne zu kleckern», dachte ich, als ich neulich im Bus neben zwei jungen Türkinnen sass. Die eine mit Kopftuch, die andere mit Kebab in der Hand. Wir haben es während der Kantizeit Mittag für Mittag geübt, dieses in Fladenbrot gerollte Fleisch mit köstlicher Sauce und «mit wenig Scharf» zu essen. Die Aufgabe der Zwiebelringe ist es, aus dem Kebab herauszufallen, diejenige der Sauce, die Hosenbeine zu schmücken.

Mehrere Stationen schaute ich zu, wie die Frau mit Kebab ihre Hände geschickt um den Kebab legte, um so Zwiebeln und Sauce zu bändigen. Sie beherrschte das Fleisch mit allen feinmotorischen Tricks. Finger um Finger isst sie sich dem Kebab entlang. Nur kleine  schmierige Reste lässt sie der Alufolie übrig.

Da beginnen sie zu schwatzen. Man horcht auf, versteht immer wieder Versatzstücke. Code-Switching denkt der linguistische Hirnbereich, schon gehört im Zusammenhang mit italienischen Migranten. Es wird immer gerade die Sprache verwendet, in der sich etwas am besten ausdrücken lässt. «Jupe» sagen sie auf Schweizerdeutsch, um dann auf Türkisch weiterzufahren.

Der Beobachter mischt sich ins Gespräch ein: «Macht ihr das bewusst, dass ihr die Sprache wechselt?» – «Weisst du, wenn du beide Sprachen gut kannst, passiert das automatisch.» Die Frau nebenan, die das Gespräch auch belauscht hat, lacht mit ihren Lippen. Schweigen.

Linguistik tötet Gespräche. Und beim Ausziehen war Sauce auf dem Schuh.

Kurzbrot

«Sie schreibt Bücher, die sich gut verkaufen, und sie bäckt Shortbreads», argumentierte sie. «Ich mag Shortbreads: Butter, Mehl, Salz und Zucker», lautete sein Urteil. Es sei die Komposition, die fessle: «Um fünf vor halb zehn läuft es noch auf die Katastrophe zu, das musst du so gut planen können. Überhaupt, schau dir die Dramaturgie an: Um viertel vor zehn ist alles wieder gut, weil sich die Katastrophe zum Missverständnis wendet.» Er hätte lieber die Katastrophe behalten, sie verteidigte alles mit der Wendung: «So passt es ins Leben, Anderes wollen wir nicht sehen.»

So haben wir Kitsch und andere Qualitäten unterschieden. Draussen regnete es, im Backofen brutzelten Marroni vor sich hin, ganz wie man sich einen Herbstabend vorstellt. Wenn wir im Film gewesen wären, hätten wir Sherry getrunken statt Caipirinha. Und wir hätten über die Nachbarn gesprochen statt uns diese Kurzgeschichte über den Stromausfall vorzulesen. Wir hatten den Film in uns und assen dazu dieses Butter-Mehl-Salz-Zucker-Gebäck.

Spinnenhände

Sie tanzen auf Tasten umher, mal sehen sie aus wie Hände, dann wie Finger und zuletzt wie Spinnen: Sie knüpfen Netze aus Tönen, indem sie Akkorde miteinander verbinden. Die Zuschauer lassen sich fangen, von den Klängen betören, bevor sie sich zum Befreiungsschlag entschliessen. Noch bevor wieder Stille eingekehrt ist, klatschen sie sich frei, um einer kleinen Metamorphose beizuwohnen. Die virtuose Musik verwandelt die Spinnen in Schmetterlinge.

Das Leben, ein Tanz auf Spinnenhänden.

Chlorgebrabbel

Man kann an einer Station aus dem Zug aussteigen, an der man sich die Leute angucken kann, die Verantwortung tragen. Einer schleppt da den grösseren Bauch mit sich herum als der andere. Das muss wohl vom vielen Entscheiden kommen: Kaufen, verkaufen, behalten, eine Option auf den Kauf kaufen, die Option auf den Kauf verkaufen.

Sie haben ihre separate Tür, wenn sie aus dem Bahnhof hinaustreten wollen. An einer anderen Tür kann man an dieser Station auch Leute anschauen, die über diejenigen mit der Verantwortung Geschichten schreiben. Welten trennen diese beiden Spezies: Tropfen eines tosenden Gewässers.

An der selben Station steigen auch die Leute aus, die sich wie Fische fühlen wollen. Sie wechseln die Strassenseite, ignorieren mit Wohlwollen die Verantwortungsträger – man soll die schwer Tragenden nicht noch ärger belasten –, weil sie Wichtigeres zu tun haben.

Sie schwitzen unter Schwerstarbeit und merken nichts davon, weil sie im Wasser arbeiten. Das linke Bein hoch, dann das rechte, alles schön im Takt der Musik, die mehr von Vorgestern nicht sein könnte. Diejenigen, die sich nicht anleiten lassen von der Dame mit Turnschuhen, teilen sich in Schnelle und Langsame, indem sie Bahnen ziehen.

Kommen sie aus dem Gebäude, das eigens dazu gebaut wurde, Wasser zu enthalten, sehen sie alles in anderem Licht: Die Händler, die mit Unsichtbarem handeln, die Schreiberlinge, die im Glaskomplex sitzen, und die abertausend Wasserteilchen, die von oben nach unten fliessen.

Elefanten am Ganges

Da spricht man über Erweiterungen von EU-Grenzen im Rahmen der Bilateralen Verträge, was an sich schon Kuriositätswert hat, wenn sich im Moment die Politik doch um Dinge wie HarmoS, Nachfolge Schmid oder ein flexibles AHV-Alter drehen würden. Es kommen die alten Argumente, dass man Grenzen geschlossen halten muss, damit keine Arbeitsplätze verloren gehen. Und dass Affen und Elefanten ohnehin nicht viel gemeinsam hätten.

Im gleichen Atemzug erwähnt er die neuen Angebote, die er im Internet entdeckt hat: Geisterschreiber aus Indien, die perfekte englische Texte hervorzaubern und keinen goldenen Penny verlangen, sondern sich auch mit weniger zufrieden geben. Oder er erzählt, wie toll es sei, dass seine Bücher jetzt immer diesen würzigen Geruch an sich hätten, speziell dann, wenn er seine Fotobücher mit den Ferienerinnerungen aus Bulgarien im Billigparadies am Ganges drucken lasse.

In solchen Momenten kommt es einem richtig spanisch, nein vielmehr ungarisch vor, während man den nächsten Appenzeller bestellt.