#29: Sitzen neben Unbekannten (124)

Plötzlich sitzt man neben jemandem, der nicht weiss, dass man sich in der Duden-Lektüre beim Eintrag zu Abbrand befindet, und fängt aus unerklärlichen Gründen an, miteinander zu kommunizieren. Unfreiwillig der eine, mit allem Enthusiasmus der andere.

Er habe eben den Bruder des Kurhausdirektors von D. gesehen, und er habe es nicht einmal bemerkt, bis jemand ihn mit dem Namen angesprochen habe. Es wäre doch so schön, sich einmal in diesem Kurhaus abbrausen zu lassen. Der Service sei erstklassig, habe er gehört.

Eigentlich wäre einem zumute, dieses Gespräch abzubrechen, weiss aber nicht wie. Allzu unhöflich möchte man ja nicht wirken, vielleicht wird man ja selbst einmal Bruder des Direktors eines Kurhauses in D. Da wäre es ja schön, wenn sich Leute erfreuen würden und in ein fast kindliches Lachen ausbrechen, dass sie die Ehre hatten, diesen Bruder zu sehen.

Der Abbruch des Blickkontaktes vermag nicht, den Redefluss des Gegenübers abzubremsen. Auch die gänzliche Abwendung führt nicht dazu, die Tirade übers Internet, bei der wir nämlich zu diesem Zeitpunkt angelangt sind, in eine Abbremsung zu überführen.

Also doch nochmals hinwenden zu diesem beneidenswert hartnäckigen Gesprächspartner und ihm klar machen, dass man eigentlich gar nicht wegen ihm, sondern wegen dem Redner da vorne gekommen sei. Wie aber bringt man das zustande, ohne das gegenüber innerlich ganz abbrennen zu lassen? Vielleicht eine Abbreviation verwenden, die er nicht verstehen würde? Zum Beispiel rofl, lol oder etwas in diese Richtung? – Zu gefährlich, die Abbreviatur lol könnte dieser Internet-Oppositionelle als Löli deuten. Dies würde ihn aber vielleicht davon abbringen, ständig Laute von sich zu geben?

EM allerseits (123)

In Zürich steht schon seit langer Zeit am Hauptbahnhof eine Tafel, die einem fast leid tun müsste, wenn wann nicht wüsste, dass dies ihr Job ist: Sie zählt rückwärts. Und zwar die Minuten, die Stunden und Tage, man war gnädig mit der lieben Uhr, dass sie nicht auch noch die Sekunden im Rücklauf anzuzeigen hat.

Gleicherorts werden die Bahngäste auf den Perrons mit wunderhübschen Plakaten empfangen, welche die Vorfreude auf die EM vergrössern soll. Die Schweiz wird auf die EM eingestimmt. Jeder Bürger und jede Bürgerin hat sich auf das sportliche Grossereignis zu freuen, es sei eine Chance für die Schweiz als Gastgeberland, hört man allerseits.

Grosse Enttäuschung war bei den einen deshalb auch zu vernehmen, als die UBS Arena in Winterthur von den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern gottlob nicht goutiert wurde. Den Beizerinnen und Beizern gehe so massenhaft Umsatz verloren, schliesslich würden dann alle nach Zürich gehen, um sich das Riesenspektakel anzusehen, denn da gebe es einen Stadtpräsidenten, der sich für den Fussball einsetze.

Um eine andere Zeit an einem anderen Ort, gerade von einem schönen Wochenende aus Frankreich zurückgekehrt, noch kurz einen Abstecher bei McDonalds machend, um eine der Toiletten zu benutzen. Nichts Schlimmes dabei denkend und aus hygienischen Gründen das Pissoir benutzend, wird man aus den schönen Erinnerungen an die schönen Tage in Sarko-Land auf den Boden der Realität oder vielmehr auf den Rasen der Realität zurückgeholt. Da darf man doch tatsächlich lesen, dass die Schweizer Nationalmannschaft bestimmt gewinnen werde, wenn jeder Spieler so gut treffe wie der Benutzer der Steh-Toilette. Die Pfützen auf dem Boden hat ausser mir wohl niemand gesehen?

Nochmals andere Zeit und noch ein anderer Ort, wieder mal aus hygienischen Gründen ein Steh-WC benutzend, entdeckt man noch ein tolles Stickerchen, das an der Porzellanschüssel angebracht ist. Ein Hologramm (wohl als Zielrichtung gedacht), offenbart beim Nasswerden einen Ball, der vor dem EM-Fieber noch nicht da war.

Wo kann man dem Massenereignis noch entkommen? Die Verbindung von Fussball und Toilette, ein Vorzeichen, das man sich ernsthaft durch den Kopf gehen lassen müsste? Oder gar Fussball als Kloaken-Produkt?

Zur Beruhigung: Das soll mein erster und letzter Beitrag zur Fussbal-EM 2008 bleiben.

#28: Abblasen einer wichtigen Reise (122)

Bei allzu wüstem Wetter sollte man gewisse Dinge einfach abblasen. Während der Schulzeit war jeweils die Telefonnummer 1600 gefragt, wo Lehrerinnen und Lehrer auf ein Bändchen sprachen, ob ein Sporttag stattfinden werde oder nicht. Unglaublich teuer waren diese Telefonate auf das Bändchen, denn bis man endlich bei der richtigen Schule angelangt war, durfte man sich zuerst anhören, dass in einem Schulhaus eines Bergdörfchens im Wallis ein Sporttag durchgeführt werde, weil das Wetter so schön sei und dieser Sporttag beginne um 13 Uhr wie abgemacht im Turntenü.

Die Zeit dieses Telefondienstes ist wohl so gezählt wie diejenige des Zeitansage-Telefonbeantworters. Mit Internetzeit hat heute wohl jeder genauere Uhren als man sie je gestellt bekam, währenddem die Zeitansagerin noch Sekunden zählte, bis sie den Piepston abschickte. Der Telefondienst wird vielleicht allmählich durch Email-Massensendungen abgelöst oder auch weiterhin beibehalten.

Dass jemand keinen Computer hat, wird da so wenig nützen wie damals im 1997 als die Familie des Klassenkameraden keinen Telefonapparat hatte. Entschuldigt werden sie wohl dadurch, dass beim Haus, in dem sie wohnten, schon die Farbe total abgeblasst war. Wenn man genug genau hinguckte, konnte man sehen, dass sie stellenweise sogar abblätterte.

Bei Sporttagen oder Schulreisen waren die Mitglieder immer auf ein Buschtelefon angewiesen, denn an Gebüsch waren sie wiederum reich. Rund ums Haus wurden Bohnenstangen in den Boden gerammt, damit sich die Familie während des Winters von Bohnen ernähren könne. Nicht nur zu diesem Zweck waren die Bohnen während des Sommers wunderbar. Auch wenn ein Autofahrer, obwohl mitten im Dorf, vergessen hätte, abzublenden, also das Abblendlicht zu verwenden statt der Scheinwerfer, wäre diese Familie nicht geblendet worden.

Ob der Junge mal bei Regen an eine Schulreise gegangen ist, weil er die Nummer 1600 nicht direkt hören konnte? – Ob er einen Schaden erlitten hat, weil er die Zeitansage nicht abhören konnte, und so nicht in den Genuss einer Zeitmaschine kam. Vielleicht blitzt er jetzt bei anderen Dominas, wer will, kann hier auch dominae lesen, ab, weil er sich nicht lange hat überlegen können, was er dem Fräulein auf der anderen Seite sagen würde, wenn sie denn aus dem Telefonhörer herausstiege?

Auf jeden Fall weiss er jetzt, wie man damit umgeht, wenn man hinter den sieben Büschen lebt und im Regen, mutterseelenallein auf die Schulreise gehen will. Und was es braucht, damit man die anderen abblocken kann, wenn sie ihm erzählen, dass trotz des schönen Wetters die Schulreise am 1. April nicht stattfindet, weil das Wetter zu schön sei und man dann das gelbe Regenmäntelchen nicht brauchen könnte. Oder die Pelerine. Und das nach fauligen Eiern riechende Haarshampoo.

«Was die Remer fürn Schmarrn zamenbaut habn» (121)

Wenn die Römer wüssten, wie die Menschen heute auf ihrem Forum Romanum herumlaufen, würden sie sich wohl im Grab umdrehen. Hier lästern sie über die Praktiken, die in den Vesta-Tempeln an der Tagesordnung standen, da macht sich Unverständnis für die riesigen Tore und Säulen breit.

Die gleichen Menschen, die ihr Unverständnis kund tun, überlegen sich mit Aussprüchen wie «Schau mal, was die Remer fürn Schmarrn zamenbaut habn» nicht, was sich die Menschen in zweitausend Jahren darüber denken, was wir im weltweiten Netz angestellt haben.

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Nicht dass dann ein Archäologe mit diesen tollen Archäologenkleidern noch irgendwelche Datengräber ausgraben könnte – dafür sind die Bits und Bytes dann wohl doch zu wenig fest und zu sehr von Magneten abhängig – aber wer schon Eintritt bezahlt, um das Forum Romanum zu besichtigen, könnte doch wenigstens ein wenig Achtung vor der Kultur zeigen, die Bauwerke hervorgebracht hat, die heute noch zu sehen sind. Niemand mag bestreiten, dass von einigen Sachen bloss Steinhaufen zu sehen sind, aber auch diese zeigen die Sorgfalt und Mühe, mit der diese einst errichtet und aufgeschichtet wurden.

Für digitale Fotografien sind die Steinhaufen dann doch noch gute genug, denn schliesslich – so könnte man meinen – geht die Repräsentation über die Jahrtausende hinweg: Die Römer, oder besser gesagt, diejenigen, die es sich leisten konnten, liessen sich Prachtsbauten errichten, mit denen sie ihre Macht repräsentieren liessen. Der Tourist will seinen Daheimgebliebenen wissen lassen, wo er war: Das Beweisfoto als Repräsentation seines Interesses an der Kultur, die er Steinhaufen nennt.

Was die Archäologen von morgen – beziehungsweise die Touristen von morgen – sagen werden, wenn sie dereinst die Papiere der heute lebenden Römer ausgraben werden, bleibt nur zu vermuten. Ein Beweisfoto hierzu:

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