Archiv der Kategorie: Chaos im Alltag

Zeitungen der Weltordnung

Eine Zeitung klatscht gegen die Fensterscheibe. Oberhalb seines Kopfes surrt irgendein Insekt unbeirrt weiter. Klatsch, klatsch. Der surrende Fliegkörper flieht in ein anderes Abteil. Der Herr gesetzten Alters regt sich lauthals darüber auf, das Mistvieh nicht getroffen zu haben. Man sieht ihm an, dass er es bereut, nicht seinen ultramodernen Fliegenklatscher bei sich gehabt zu haben, der das Minilebewesen grilliert und geniessbar gemacht hätte. Man denke nur an die Proteine!

Beim Aussteigen erklärt er, Ordnung müsse sein. Man könne doch nicht überall Zeitungen herumliegen lassen. Ein Nicken bestätigt seine Aussagen. Wenn man bis zur Rolltreppe den gleichen Weg genommen hätte wie er, hätte er einem seine Weltordnung noch ausführlicher erklären können: Einmal in der Woche wird das Auto fein säuberlich herausgeputzt. Manchmal habe man ja Blätter an den Schuhen, das könne ja passieren. Aber Ordnung sei das Mindeste im Leben. «Sie haben doch bestimmt auch gerne Ordnung, sonst hätten Sie ja nicht die Zeitungen aus dem fremden Abteil weggeworfen?

Heimlich ertappt man sich dabei, wie die Arbeiten der letzten Tage tatsächlich einen gewissen Ordnungswillen zeigen: Zeitungsartikel ausgeschnitten statt einfach ausgerissen, dieselben fein säuberlich klassifiziert nach Titel, Nummer im System, Autor, Medium und Erscheinungsdatum. Die Bücher wieder schön ins Bücherregal eingeräumt: Einerseits alphabetisch, anderseits nach Reclam und Nicht-Reclam sortiert. Die Buchrücken nur schön bis zum Rand des Regals eingereiht.

Dann blickt man in die Zukunft und sieht, wie sich die Bücher langsam zu regen beginnen, ihre Plätze nicht behalten wollen, wo sie ihn haben. Das Inwendige will zum Auswendigen werden, jedes Buch den für sich adäquaten Platz auswählen. Man hört sie schreien: «Auf den Tisch, auf den Tisch!» Bis sie sich wieder türmen, die eigene Last nicht mehr aushalten, zu Boden fallen und dabei ein schwirrendes Insekt klatschend unter sich begraben.

Fussnoten für die Geschlechtergerechtigkeit

Wenn Fussnoten den Verkehr von Zahlungen regeln. Auch zwischen den Geschlechtern.

Es ist immer schön, Post zu bekommen. Besonders dann, wenn auf dem Briefpapier drei Schlüssel miteiannder verbunden sind. Manchmal ist der Empfang solcher Schlüsselbriefe aber noch schöner: Dann nämlich, wenn sich die Angestellten wieder einmal dazu durchgerungen haben, ihren Kunden [sic!] neue Regelwerke zuzuschicken.

Mit besonderem Vergnügen sind da die formelhaften Eingangssätze zu lesen. Sie sind mit Fussnoten versehen, die nicht nur eine vollständig neue textinterne Grammatik aufstellen, sondern auch noch über den Text hinausgehende Konsequenzen mit sich bringen.

Zahlungen seien jetzt nicht mehr nur innerhalb des Landes zu Inlandtarifen möglich, auch ausserhalb der Landesgrenzen wird nur noch der Inlandtarif verrechnet, endlich ein Fortschritt! Dafür sollen bald die SEPA-Transaktionen zuständig sein. Nachdem man dann das dritte Mal SEPA gelesen hat, wird auch noch erklärt, dass damit Single Euro Payments Area (?) gemeint ist.

Und nun noch gratis dazu eine dieser wunderbaren Fussnoten:
Die Einzahl umfasst auch die Mehrzahl, die männliche Form auch die weibliche.
Da hätte unser selige Lateinlehrer seine wahre Freude daran gehabt. Endlich: seine ehemaligen Schüler wissen (theoretisch), dass man auf zwei zählen muss. Man deklariert dies auch, in der Praxis kann oder viel lieber will man es dann nicht umsetzen; die sprachliche Vielfalt zur Wirklichkeitsabbildung wäre nämlich viel zu gross. Männliche und weibliche Formen unterscheiden? – Nichts einfacher als das, aber für die Übersetzung spielt es ja so oder so keine Rolle… (Na ja.)

Beim nächsten Kontoinventar dann bitte auch so: die Einzahl ist eigentlich eine Mehrzahl, nur nicht so geschrieben. Die Auszüge müssen, so die Begründung, leserlich bleiben. Vielen Dank für diesen Schlüsselsatz!

In eigener Sache: Neue Kleider für den Frühling (126)

Die Leserinnen und Leser, die auf dieser Seite vorbeischauen, bekommen die Inhalte in einem neuen Kleid präsentiert. Wie man sich für den Frühling frische Kleider sucht, damit die wärmeren Temperaturen einem gut bekommen, hat dieser Blog neue Kleider gesucht – und beim upstartblogger gefunden. Zum Glück, darf man meinen, denn seit Gottfried Keller machen ja Kleider schliesslich Leute (und in diesem Sinne Designs auch Blogs).

Wer die ganze Geschichte von Gottfried Keller lesen mag, kann sich die aktuelle Ausgabe des Kulturmagazins  «Du» kaufen. Die komplette Erzählung ist eben darin abgedruckt und ist komplettiert mit anderen Beiträgen zum Thema «Das Kleid».

Wer lieber am Bildschirm liest, kann die neu edierte (historisch-kritische) Fassung von «Kleider machen Leute» auch parallel mit Kommentar im Internet bestaunen.

Die Welt ohne den Tod

Wie es wäre, in einer Welt zu leben, die keinen Tod kennt, beschreibt José Saramago in seinem Buch «Eine Zeit ohne Tod». Das Buch ist äusserst empfehlenswert, gerade auch dann, wenn man sich – wie so viele Menschen in unseren Breitengraden – ewig zu leben wünscht. Dass die Resultate, die bei diesem Experiment herauskommen würden, alles andere als erfreulich sind, zeigen die anekdotischen Gedanken. Mehr dazu aber in meinerBesprechung des Buches bei Tink.ch.

Von der Lektüre dieses Buches zurückgekehrt in die normale Welt, gilt es, schon wieder die Koffer packen und diesmal statt auf eine Gedankenreise, selbst einen Weg unter die Füsse zu nehmen. Auch dieser Weg soll nicht ohne Bücher gemacht werden, es wäre ja schade, wenn man mit dieser Reise nicht irgendwelche Lektüren in Verbindung bringen könnte.

Eines der Begleiter soll Shakespeares «Ein Sommernachtstraum» sein, von dessen Aufführung im Pfauen ich hellbegeistert war, vor allem von den Bauchrednerpuppen. Erstaunt war ich vor allem über die schlechten Rezensionen in einigen Feuilletons und anderen Magazinen, aber vielleicht werde ich auch noch nachträglich enttäuscht sein, wenn ich das nette Reclam-Büchlein gelesen haben werde.

Ausserdem soll auch Stefan Zweigs «Die Welt von Gestern» mitkommen. Dass ich beide Bücher lesen werde, glaube ich kaum, aber es ist immer schön zu wissen, etwas für den Fall der Fälle dabeizuhaben. Wahrscheinlich kommt es ja wieder so heraus wie im Sommer in den Segelferien, dass ich im Zug lieber die Augen zudrücke (hätten die Kondukteure bei den Leuten, die gestern kein Anschlussbillet für eine Zone hatten übrigens auch tun können!) oder mit den Mitreisenden gute Unterhaltungen führen.

Meinen Lesern und Leserinnen wünsche ich ganz schöne Ostern. Die Kommentarfunktion wird nur eingeschränkt verfügbar sein, dies um einerseits Spam, anderseits aber auch anderen Kommentaren, die nicht den Umgangsformen entsprechen, die in einer zivilisierten Gesellschaft erwünscht sind, vorzubeugen. Ich bitte, die dadurch entstehenden Unannehmlichkeiten zu entschuldigen!

Von der Passion zum passionierten B. (101)

Ein gestürzter B. im Wald. Nein, es geht nicht etwa um die Bäume, die im Eschenbergwald gefällt werden, damit sie verheizt werden können. Die verheizten Topkader sind im Wald viel zahlreicher anzutreffen als rollende Bäume. Sie rollen mit ihren teuren Velos die tauenden Wege hinunter, damit die Kleider – irgendein synthetisches Fabrikat wohl – möglichst dreckig werden, und man zu sehen fähig ist, was sie angestellt haben. Manchmal auch im Status eines Gestürzten, einige haben das Glück, dass ihnen der Stuhl abgesägt wird, bevor es zum natürlichen Fall kommen würde. Der Sturz sei dann kontrollierter, wie man Förstern entlocken könnte, wenn man sie denn fragen würde.

Der Platz, den ein Baum nach seinem Sturz einnehmen wird, ist wohl schon vorbestimmt. Manch einer wird gehäckselt, damit eine Holzschnitzelheizung das Beste aus dem kränkelnden oder nicht mehr verwendbaren Objekt machen kann: Recycling, damit der Verwesungsprozess nicht eintritt.

Was aber macht der gefällte Topkader-Platzhirsch, nachdem ihm der Stuhl abgesägt worden, und er erst noch vom Bike geflogen ist? Häckseln und Schnitzelheizung für die fach- und sachgerechte Entsorgung, die erst noch umweltfreundliches Heizen und Wärme für einen ganzen Winter bedeutet? Das Leiden des Bikers wäre eindeutig (wenn nicht sogar eineindeutig) zu gross. Schliesslich hat er sich doch auch schon beim Velofahren schwere Schürfwunden zugezogen, die einer mühseligen Heilung bedürfen, die Passionsgeschichte, also die Geschichte seines Leidens, braucht nicht noch dramatisiert zu werden.

Das regionale Arbeitsvermittlungszentrum wird ihm eine Weile Geld für die Haushaltskasse zukommen lassen. Als Gegenleistung wird gute Vermittelbarkeit und eine bestimmte Anzahl Bewerbungen erwartet, ist ja ganz klar. Aber wie immer: Eile mit der dazugehörigen Weile.

passion

Was soll er denn in seinen Bewerbungsbriefen schreiben? Etwas Originelles hätte er doch bei den Bewerbungsbriefen abgucken können, die er bei der Auswahl, als er noch Personal einstellen durfte, jeweils fein-säuberlich geprüft hatte. Bei vielen hat da bei den Hobbys gestanden: «Passionierter Biker, geht Risiken ein.» Das klingt doch originell, und zufällig trifft es auch auf den Topkader zu, auf den alle gewartet habe. Also, entschieden, das gehört auch in die Bewerbungsunterlagen rein.

Warum aber will die Passion kein Ende haben? Wer mit soviel Passion im Wald herumfährt, sich zum Baum machen lässt und erst noch nicht einmal von Schürfwunden zurückschreckt, sollte doch belohnt werden. Wo ist die Wucht geblieben, die man bekommt, wenn man einen riesigen Berg hinunterrollt?

Dummerweise – oder für den passionierten Workaholig: glücklicherweise – haben die beiden Passionen nicht mehr viel gemeinsam: Die Passion als Leidensgeschichte wurde direkt aus dem Lateinischen entlehnt, und das schon vor einigen Jahrhunderten, die Passion, welche die Leidenschaft meint, hingegen aus dem Französischen. Wer aber auch bei Leiden-schaft noch stutzig wird, dem geht es so wie dem Verfasser dieses Textes. Das Leiden steckt ja auch im deutschen Wort noch drin.

Die Leidenschaft ist für den Ersatz des französischen passion geschaffen worden, also als Ersatz für das Wort, das ein Gefühl eines bewegten Gemütszustandes beschreibt. Wenn man es nicht besser wüsste, würde man wohl zur Annahme kommen, dass sich die Bedeutung gewandelt hat von der christlichen Passion, die oft auch als einzelner Begriff das Leiden Christi beschreibt. Das Deutsche war hier aber ausnahmsweise einmal nicht wahnsinnig kreativ. Unser passionierte Biker ist also – Gott sei Dank – eher eine Ausnahme als dass er die deutsche Wortgeschichte im bildhaften Sinne demonstrieren würde. Hier lohnt sich die Frage: «Wer hat’s erfunden?»