Le Grand Cahier (70)

Der erste Teil einer losen Serie mit Rückblicken auf Lektüren aus dem Jahr 2007. Die Liste befindet sich hier.

Von der Analphabetin zum grossen Heft

Mit dem grossen Heft – so lautet die deutsche Übersetzung von Le Grand Cahier – beginnt eine ganze Trilogie Agota Kristofs. Auf Le Grand Cahier folgten noch La Preuve und Le Troisième mensonge. Gelesen habe ich bis jetzt erst Le Grand Cahier und davor noch ein autobiografisches Werk von Agota Kristof – dieses in der Übersetzung Die Analphabetin: eine autobiografische Erzählung, die beim Ammann Verlag erschienen ist; jenes in der französischen Fassung, die bei Seuil verlegt wird.

Eigentlich ist es die Analphabetin, die mich dazu bewogen hat, auch noch Le Grand Cahier zu lesen. Die autobiografische Erzählung ist wirklich packend und praktisch in einem Atemzug gelesen. Das Schicksal einer guten Schülerin, die aufgrund der politischen Umstände zur Flucht bewegt wird, ist packend erzählt. Umso tragischer wirkt hier der Umstand, dass jemand, der in seiner Sprache zuhause war, sozusagen entwurzelt wird und in der neuen Sprache alles wieder erneut lernen muss.

Das Mädchen wird durch die Flucht schliesslich wieder zur Analphabetin. Mühsam lernt sie, die mit dem phonetischen System der Magyaren vertraut gemacht wurde, sich in einer indoeuropäischen Sprache, dem Französischen auszudrücken. Ein völlig anderes Schreiben und ein Aspekt, der wohl prägend auf das Schreiben der Frau eingewirkt haben dürfte.

Der Weg, den ich zur Entdeckung von Agota Kristofs Werken eingeschlagen habe, scheint mir im Nachhinein eigentlich ziemlich gut, denn – wenn ich mit dem Grand Cahier angefangen hätte, bevor ich die Analphabetin kannte, wäre ich wohl nicht fasziniert gewesen von den geschilderten Umständen, in denen die Zwillinge Claus und Lucas bei ihrer Grossmutter aufwachsen.

La langue étrangère

Parallelen finden sich schnell, denn auch bei Claus und Lucas spielen fremde Sprachen und Nichtverstehen eine grosse Rolle. So lernen sie die fremde Sprache, die alle Offiziere sprechen, welche die Grenze passieren, wo auch die Zwillinge mit der Grossmutter wohnen:

L’officier nous apporte un dictionnaire dans lequel on peut apprendre sa langue. Nous apprenons les mots ; l’ordonnance corrige notre prononciation. Quelques semaines plus tard, nous parlons couramment cette langue nouvelle.
(Der Offizier bringt uns ein Wörterbuch mit, in welchem man seine Sprache lernen kann. Wir lernen die Wörter; der Offizier korrigiert unsere Aussprache. Einige Wochen später sprechen wir diese neue Sprache fliessend.)

Dies als Eindruck vom schöneren Teil des Buches.

Exerzieren

Sauereien kommen einem in Kapiteln entgegen, die betitelt sind mit Exercice d’endurcissement du corps (Abhärtungsübung für den Körper), Exercice d’endurcissement de l’esprit (Abhärtungsübung für den Geist), Exercice de mendicité (Bettelübung). Gedacht sind allesamt dazu, in einem spezifischen Gebiet Unabhängigkeit von der Grossmutter zu erlangen.

Weil die Grossmutter immer wieder mit ihren knochigen Händen zuschlägt, beginnen sich die zwei Brüder gegenseitig zu schlagen im Kapitel, in welchem sie sich die Körper abhärten wollen. Mit der simplen und logischen Erklärung: «Nous décidons d’endurcir notre corps pour pouvoir supporter la douleur sans pleurer.» (Wir haben entschieden, unseren Körper abzuhärten, um die Schmerzen zu ertragen, ohne zu weinen.)

Weil die Grossmutter die Kinder immer wieder kränkt und die Kinder auch von anderen Leuten immer wieder mit unsittlichen Ausdrücken beleidigt werden, müssen sich die Kinder gegenseitig beleidigen, damit es weniger schlimm ist, wenn sie von den anderen beschimpft werden.

So geht dies mit diesen exercices fast unaufhörlich weiter, ein Buch also, das von der Abhärtung zweier Buben handelt, die sich erst noch selbst abhärten. Eine Art paramilitärischer Übungen, obwohl die beiden Buben nicht ins Militär werden gehen müssen, weil sie von den falschen sind. Keine Schwäche darf übrig bleiben, damit die beiden ihren Überlebenskampf unter rauen Bedingungen – sowohl körperlich als auch mental verstanden – überstehen können.

Die Lektüre artet in diesem Sinne gewissermassen zu einem Kampf aus. Man lacht, wenn man eigentlich gar nicht lachen wollte oder sollte, bisweilen aus Verlegenheit; man stellt sich vor, was die beiden Buben machen, sehen und denken, obwohl eigentlich unvorstellbar; dabei sieht man auch bei äusserst intimen Handlungen zu – der Abhärtung willen – und wird selbst zu einem kleinen Claus oder einem Marcus und begeht einen Teil der apprentissage de la vie, der einem auf dem Klappentext versprochen wird.

Literatur: Kristof, Agota: Le grand cahier. Roman. Éditions du Seuil, 1986. bzw. deutsch: Kristof, Agota: Das grosse Heft. 18. Aufl. Piper, 2008.

Rückblick – Liste (69)

Die Rückblicke in den Medien lassen es bereits erahnen: Das Jahr 2007 geht seinem Ende zu, Grund genug, nochmals über die wichtigsten Ereignisse nachzudenken. Ich nehme dies zum Anlass, eine kleine Serie zu starten, in der ich über die Texte reflektiere, die mich dieses Jahr beschäftigt haben, die mich besonders bewegt haben, oder ganz einfach, die es wert sind, nochmals gelesen zu werden.

Folgend eine Liste mit den (tlw. auszugsweise) gelesenen Texten (bzw. einer Auswahl) dieses Jahr:

  • André Gide: Les faux-monnayeurs
  • Alarcón Cristian: Der Robin Hood von San Fernando (–> Besprechung auf tink.ch)
  • Agotha Kristof: Le grand cahier
  • Friedrich Schiller: Die Verschwörung des Fiesko zu Genua
  • Friedrich Schiller: Don Karlos
  • Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel
  • Pierre Corneille: Cinna
  • Max Frisch: Der Mensch erscheint erst im Holozän
  • Friedrich Schiller: Der Geisterseher
  • Kathrin Passig/Aleks Scholz: Lexikon des Unwissens (–> Besprechung auf tink.ch)
  • Friedrich Schiller: Don Karlos
  • Sophokles: König Ödipus
  • Shakespeare: Hamlet
  • G. E. Lessing: Minna von Barnhelm
  • G. E. Lessing: Emilia Galotti
  • Joseph Roth: April – oder die Geschichte einer Liebe
  • Heinrich von Kleist: Penthesilea
  • Joseph Roth: Das Spinnennetz
  • Joseph Roth: Das falsche Gewicht
  • Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft
  • Martin Suter: Lila, lila
  • Martin Walser: Zimmerschlacht
  • Joseph Roth: Die Legende vom Heiligen Trinker
  • Thomas Mann: Der Zauberberg

und natürlich noch Aufsätze, die hier nicht erwähnt werden sollen oder ein Haufen angefangener Bücher, der noch auf darauf wartet fertig gelesen zu werden.

Weihnachten, weisse (68)

Die Wettervorhersagen für dieses Weihnachtsfest lassen den Verdacht auf eine realitätsfremde Sprache erhärten. Weshalb konserviert die Sprache mit dem stehenden Begriff der «weissen Weihnachten» eine Realität, die längst nur mehr Wunschvorstellung oder gelebte Fiktion ist
Warum finde ich im Duden nicht Folgendes:

Weihnachten, weisse: die; -; veraltend für durch Schnee geprägte Weihnachten, nur noch in Alpen- oder Industriegebieten gebräuchlich.

So oder ähnlich nämlich könnte man sich einen Eintrag im Wörterbuch vorstellen. Dies aber nur, wenn man den Vorhersehungskünstlern im Fernsehen (oder andernorts) Glauben schenkt. Schliesslich sollen die Weihnachten dieses Jahr in den meisten Gebieten nicht mehr weiss werden. Wenn man seine Siebensachen packt, kann man dennoch Schnee sehen.

Falls Weihnachten mit echtem Schnee tatsächlich ein Auslaufmodell sein sollten, kann man sich immer noch mit künstlichem Schnee beliefern lassen. Der Vorteil liegt auf der Hand: Herr Bucheli kann dann am TV-Gerät erzählen, was er will, die Weihnachten werden trotzdem weiss. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Nur eines darf nicht passieren: Weihnachten nicht weiss oder der Stempel veraltend im Duden.

Schöne Weihnachten! (67)

Ich wünsche allen Lesern und Leserinnen schöne Weihnachten! Möge es euch besser ergehen als dem Kellner am Weihnachtsabend.

Der Weihnachtsabend des Kellners

Aller Welt dreht er den Rücken,
und sein Blick geht zu Protest.
Und dann murmelt er beim Bücken:
«Ach, du liebes Weihnachtsfest!»

Im Lokal sind nur zwei Kunden.
(Fröhlich sehn die auch nicht aus.)
Und der Kellner zählt die Studen.
Doch er darf noch nicht nach Haus.

Denn vielleicht kommt doch noch einer,
welcher keinen Christbaum hat,
und allein ist wie sonst keiner
in der feierlichen Stadt. –

Dann schon lieber Kellner bleiben
und zur Nacht nach Hause gehn,
als jetzt durch die Strassen treiben
und vor fremden Fenstern stehn!

(Erich Kästner)

Kreative Karten (66)

Zurzeit sind im Fotomuseum zu Winterthur kreative Ansichtskarten als frankierte Fantastereien zu bestaunen. Bilder von Avantgarde-Künstler ziehen den Bann auf sich, jedes einzelne für sich sprechend, teilweise aber auch innerhalb einer Gruppe von Karten mehr aussagend.

Erstaunlich ist vor allem eines: Trotz der technischen Möglichkeiten, die heute mit Photoshop und ähnlichen Softwarepaketen sind die Karten heute nicht unbedingt kreativer geworden. Collagen, die wohl noch wirklich etwas mit Leim zu tun hatten, zeigen äusserst skurrile Sujets und Zukunftsvisionen von bekannten Grossstädten wie Berlin, Hamburg oder Paris.

Und noch eines: Die Imaginationen im Pfeifenrauch oder in der Seifenblase. Die leere Seifenblase mit der Aufschrift «Ce qui nous manque à tous.» Und dieses fehlt uns wohl heute noch mehr denn je. Postkarten könnten anstelle von allzu kitschigen Portraitaufnahmen der Sehenswürdigkeiten einer repräsentationswürdigen Stadt ruhig noch ein bisschen mehr Kreativität vertragen, denn gerade diese Alltagspostkarten zeigen es, dass die Fotomontage nicht Ausgeburt des Digitalen sind. Vielleicht zeigen die Karten aber auch, dass Kreativität nicht aus dem Computer kommt?

Immer wieder besuchenswert, dieses Fotomuseum.