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Selbst die Mäuse

Zum wiederholten Mal steht man am Bahnhof, der vor drei Jahren irgendein Bahnhof war, dann aber zum wichtigsten Umsteigebahnhof wurde, wie überhaupt vorher Bahnhöfe einfach Bahnhöfe waren, ausser dem grossen in der Stadt, wo man den Leuten winken durfte, wenn sie in die Ferien gingen oder wenn man selbst einen Ausflug machte.

Nun ist ja eben dieser Bahnhof, an dem die Mäuse sitzen, mitten in den Gleisen zwischen abgebrannten Zigaretten, nicht mehr irgendein Bahnhof, seit die Distanzen nicht mehr ohne Weiteres mit dem Velo zu machen sind. Diese Mäuse geben dem Bahnhof ein lebendiges Gesicht. Sonst wäre es nur ein Ort des Durchgangs, an dem sich Leute darüber aufregen, dass schon wieder mit gelber Farbe eine Verspätung von 4 Minuten angezeigt wird.

Und so kommt man jeden Tag in den Genuss eines Mäuseanblicks, obwohl man sich nicht vorstellen kann, wie diese Geschöpfe es zwischen den Gleisen und den noch brennenden Kippen aushalten, dass sie sich gar vom Anblick der Menschen, die da oben ein- und aussteigen, vereinzelt auch hinuntersteigen, ein Leben machen können.

Das alles ganz im Gegensatz zu den Mäusen, die sich eigentlich auf den Schreibtischen tummeln müssten, weil sie an elektronenspeienden Geräten angeschlossen sind, aber nur im Laden herumliegen, weil niemand sich ihrer erbarmen wollte.

Denn das spüren die Mäuse: Die Leute müssen sparen bei den Mäusen. Jeden Krümel Brot müssen sie verwerten, jedes noch so kleine Stücklein. Und wovon sollen sie leben? Das weiss bald keiner der beiden mehr: Die Mäuse nicht, weil sie nicht wissen, wann der nächste kommt, der ein Stücklein Brot hinunterwirft; die Menschen nicht, weil sie nicht wissen, wann jemand die nächste Maus kaufen wird.

Alles eine Frage der logischen Technik.

Orchideenwurzeln erdicken

Meine junge Orchidee, die ich erst neulich von der Mutterpflanze abgelöst und auf neues Substrat gepflanzt habe, wächst nicht nur prächtig; auch die Wurzeln werden von Tag zu Tag dicker. Ganz erstaunlich eigentlich, denn vor gut zwei Wochen waren die Wurzeln bloss Luftwurzeln.

Orchidee mit immer dickeren Wurzeln
Orchidee mit immer dickeren Wurzeln

Normalerweise heisst es ja, jemand wachse wie ein Welpe, ich muss das Sprichwort korrigieren: Es sollte viel eher heissen, dass jemand wie eine junge Orchidee wachse. Die Blätter sind im Vergleich mit der Vorwoche und den ersten Blättern, die so langsam aber sicher den Geist aufgeben, schon wieder prächtig gewachsen.

Langsam will der Topf als Ausbreitungsort nicht mehr genügen, die Blätter fangen bereits an, über den Rand hinauszuwachsen und den Topf bloss noch als Reservoir für die Wurzeln und Nährstoffe zu verwenden, die ja im Substrat noch in Hülle und Fülle bereit stehen.

Die Farbe der Pflanze wird immer kräftiger: Die grüne Farbe der Blätter erinnert mich mehr und mehr an den grünen Rasen in Irland, was allerdings nichts heissen will: Rot-Grün-Farbenblinden soll man im Urteil über grüne Farben nicht unbedingt trauen, schon gar nicht, wenn es subtile Farbunterschiede sind.

Während der Beobachtung des Wachstums bleibt die tägliche Freude über immer grössere Blätter, die nicht nur länger, sondern auch breiter werden und eine intensivere Farbe. Und was noch viel schöner ist: Die Vorfreude auf die ersten Blüten, die hoffentlich bald kommen werden, wenn die Mutterpflanze aufgehört haben wird zu blühen und umgetopft wird. (Sie hat dringend neues Substrat nötig, jedoch soll man Orchideen nicht umtopfen, während sie in der Blüte sind oder austreiben.)

Mehr Unterschiede als Buchstaben (115)

Wir erinnern uns nur allzu gerne daran: Als Schüler der Primarklassen sassen wir manchmal stundenlange vor einem Hellraumprojektor-Text, den es abzuschreiben galt. Nicht dass es noch keine modernen Kopergeräte gegeben hätte; nein, es war wohl zum Zweck der schönen Schreibung gedacht. Damals gab es nämlich noch die Schönschreibhefte, in die man keine Tintenkleckse reinmachen durfte, wo aber auch der Tintenkiller nicht gerne gesehen war, denn schon nach kurzer Zeit würden die Seiten vergilben, wegen der Chemie, die in diesen Killern steckt, pflegte der Lehrer jeweils zu sagen.

Von den chemikalischen Tintenkillern gleichermassen gelöst wie von den Kleckse verursachenden Tintenschreibmittel Füllfederhalter, der Federkiel wurde nie benutzt, und zum bequemen Tintenballroller übergegangen. Der grösste Nachteil, die Tinte nicht einfach mit einem Wunderstift wieder einsaugen zu können, offenbart sich als grösster Vorteil: Gedankengänge können nachvollzogen werden, wenn sich auf einer Seite Falsches durchgestrichen neben Richtigem präsentiert. Die Tinte verflüchtigt sich nicht in vergilbten Stellen, sondern artet höchstens in einem abartig anzusehenden Schlachtfeld von Gedanken aus.

Falls man wegen eines allzu exzessiven Streichkonzertes den Sinn des Aufgeschriebenen nicht mehr aus den eigenen Notizen rekonstruieren kann, ist man dank Literaturangaben und liebenswerten MitstudentInnen (das Wort KommilitonInnen benutze ich nur äusserst ungern) in einigen Fällen wieder dazu fähig, aus den eigenen Mitschriften einen Sinn herauszulesen. Wie aber steht es mit Texten, die einen weiten Überlieferungsweg hinter sich haben?

Das neue Testament in der Version der King James-Übersetzung

Bild: Das neue Testament in der Version der King James-Übersetzung. Bearbeitet von flickr (Ursprünglich fotografiert: Misty P.).

Die Bibel könnte man hier als Paradebeispiel aufführen. Die Schriften des Neuen Testaments haben eine gut 2000-jährige Tradition hinter sich. Zwar schon als schriftlich festgehaltene Quellen, allerdings in einer total unübersichtlichen Flut von Papyrii, die zu allem Unfug noch nicht einmal den selben Wortlaut enthalten. Wie soll man da herausfinden, welches denn jetzt der Text ist, von dem es sinnvoll ist auszugehen?

Dass man mit Übersetzungen äusserst vorsichtig umgehen sollte, lehren uns die modernen Übersetzungsmaschinen von Google, Altavista, Babelfish und ähnlichen Maschinerien. Dass man mit den automatischen Übersetzungsprogrammen eine Fülle an neuen Texten generieren kann, ist auch im Beitrag Rückübersetzt nachzulesen. Was den Ausgangspunkt von einem NY Times Text von demjenigen der Bibel grundsätzlich unterscheidet ist allerdings dessen Einheitlichkeit. Für diesen kurzen Abschnitt gibt es nicht auch noch Varianten, die man beachten müsste, und doch ist die Übersetzung nicht das, was man ursprünglich einmal hatte.

Genau diesem Phänomen gilt es Rechnung zu tragen, will man sich nicht in der Auslegung eines biblischen Textes verirren, wenn man nur eine Variante vor sich hat. Manchmal ist es auch schon gut, nur mehrere Übersetzungen nebeneinander zu legen, will man sich nicht die Mühe machen, extra für die Lektüre des Neuen Testaments, einen Griechisch-Kurs zu besuchen. Die verschiedenen Übersetzer akzentuieren nämlich in ihren Übersetzungen bestimmte Merkmale unterschiedlich.

Gerade beim Neuen Testament sind es aber nicht nur Übersetzungsprobleme, die irritieren können und schon manchen Interpreten in die Irre geführt haben oder gar einen Ausleger mit der Etikette eines fundamentalistisches Auslegers versehen haben. Dass man bei einem Textkorpus, das eine so reiche Tradition hat wie das Neue Testament, besonders Acht geben sollte, bevor man sich auf die Äste hinaus wagt ist da schon fast nicht mehr erwähnenswert.

Zu diesem Thema gibt es auch interessante Videos bei Youtube: Der Bible Scholar Bart D. Ehrman erklärt in seiner Stanford Lecture den Sachverhalt in der Überlieferungsgeschichte des Neuen Testaments. Das Video ist in zehn Teile unterteilt. Folgend die Links: Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8, Teil 9, Teil 10.

Heilige ausgestellt (96)

Das Landesmuseum zeigt mittelalterliche Büsten von Heiligen, die von ihrem Ausdruck nichts verloren haben, es scheint jedenfalls so. Bei näherem Hinsehen kann man bei einigen Büsten den Zahn der Zeit gut erkennen, denn Löcher von Holzwürmern beeinträchtigen die Oberfläche der hölzernen Skulpturen.

Als reformiert Aufgewachsener war mir die Welt der Heiligen eine ganz neues Erlebnis. Die Idee, dass man für jeden wichtigen Stand oder auch Berufsgattung einen Heiligen hat, den man anrufen kann, scheint mir deshalb auch ziemlich fremd und erinnert fast schon an eine polytheistische Ordnung, wie sie die Griechen oder Römer kannten, um dies aber wirklich zu beurteilen, will ich mich mehr mit den Heiligen auseinandersetzen.

Was ich nämlich äusserst spannend finde, sind die Legenden, die sich rund um die Heiligen herausbilden. Auch die bildende Kunst, wie sie gerade im Landesmuseum zu bestaunen ist und sie im Mittelalter betrieben wurde, ist erstaunlich. Es gibt nämlich äusserst feine Darstellungen, die eine Präzision zeigen, die das Vorurteil des dunklen Mittelalters mit einem Blick wegfegen.

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Zum Bild: Ausschnitt eines Fotos einer Maria Magdalena Statue, die nicht an der Ausstellung zu sehen war. Es ist von Nick in Exsilo und hier zu bewundern.

Dennoch wird auch die Ausstellung mit verschiedenen Lichteinstellungen gezeigt: Auf der einen Seite die mittelalterlichen Heiligen, die auch heute in der katholischen Kirche ihren Platz finden, auf der anderen Seite ein hell beleuchteter Raum, an dessen Wänden Worte zu finden sind. Ganz nach Luthers Leitspruch der Reformation «sola scriptura sui ipsius interpres». Es sind Worte von Reformatoren zu lesen, die ihrerseits Kommentare zum Umgang mit Bildern machen.

Liegt da eine Bewertung von Bild und Wort vor, wenn das Wort so hell und klar dargestellt wird, die Büsten aber in eher düsteren Räumen? – Oder sind das einfach Lichtverhältnisse, die aus konservatorischen Gründen gewählt wurden und den Besucher nicht zu interessieren haben? Sonst scheint nämlich die Wahl der verschiedenen Medien gut aufeinander abgestimmt, denn die Musik, die aus den Kopfhörern kommt und mit dem Verlassen eines Raumes automatisch wechselt, ist äusserst gelungen mit den plastischen Bildern der Heiligen kombiniert.